Das halbe Haus: Roman (German Edition)
»Da siehst du, wo uns deine Amis hinbringen«, sagte Emmerich aus der Ecke. – »Könnte dann vielleicht Monika Vogel den freien Platz haben?«, fragte Frau Dr. Spohn. »Ich glaube, ihr liegt mehr am Überleben als dem Kollegen Friedrich.« – »Die Überlebenden werden die Toten beneiden«, antwortete er und folgte Anita auf den Gang hinaus. Ja, heute war er schlagfertig, heute war er mutig. Am Tag der Aussprache sah das schon wieder ganz anders aus, da schwieg er beharrlich, während Emmerich, die Spohn und Langrock ihn agitierten, ihn zur Selbstkritik ermahnten. Nur einmal fragte er, wo zum Teufel all die Proben abgeblieben seien, die Arbeit von Jahren. So würde das nichts werden, schloss Langrock das Tribunal nach einer zähen halben Stunde. Er müsse dem Kollegen Friedrich im Namen des Mess- und Proben-Kollektivs einen schweren Tadel für sein egoistisches Verhalten aussprechen, welches den kriegstreiberischen Mächten in die Karten spiele. Ich bin fünfunddreißig, bald sechsunddreißig Jahre alt, dachte der so Getadelte, aber ich werde immer noch in die Ecke eines Klassenzimmers gestellt, noch immer muss ich nachsitzen. Bald werde ich gar nicht mehr aufstehen, ich werde sitzen bleiben, hier, im Sessel, für immer. Keinen Finger werde ich mehr rühren, mir keinen Kopf mehr zerbrechen, und alles, was in meinem Schädel ist, wird dieses Schnarchen sein. Denn es ist wieder angesprungen, ihr Schnarchen. Erneut hat sie sich auf den Rücken gedreht und schnarcht nun beherzter als zuvor. Und zwar nicht nur beim Einatmen, sondern auch beim Ausatmen. Ich bin eine Bache, sagt die Bache. Kaum leiser ist das Rasseln, wenn sie die Luft durch Nase und Mund ausstößt. Als gestern Abend die Reden geschwungen wurden, saßen sie noch Seite an Seite, der Kannibale und die Königin. Der Plattenunterhalter spielte etwas Schmissiges, etwas mit Fanfaren, das sich nach der Internationalen anhörte und das die Mitglieder des Großen Rates und des Kulkwitzer Karneval-Klubs sowie alle Gäste zum Aufstehen zwang. Der Ratsvorsitzende verlas die Tagesordnung und kündigte mehrere Redner an. Ob man den Dreieinhalbjahresplan erfüllt oder gar übererfüllt habe, werde sich heute offenbaren. Zuerst jedoch bitte er den Vorsitzenden der Sektion Genussmittel auf die Bühne, ihm gehöre das Wort. Ein fetter Mann mit Fleischerkittel, weißem Häubchen und dicker Brille trat ans Pult und lamentierte: »In den Deli-Läden, da schmeckt es lecker, doch kaufen kann da nur der – reiche Mann.« Tusch, Schenkelklopfer, Kopfschütteln, Mensch, der traut sich was, zwischen den Zeilen traut der sich was, durch die Blume geigt der denen mal richtig die Meinung, mein lieber Herr Gesangsverein. Dann folgte einer im grauen Anzug und mit grauem Gesicht, der eine Lobrede auf die Beschleuniger des Leistungswachstums hielt: die Regenwürmer. Mit hoher Stimme haspelte und stolperte er durch seine Rede, ganz im Stil des Obermuftis. Er beglückwünsche und begrüße die Wurmbrigade, die sich mit aufopferungsvollem Einsatz in das Hauptkampffeld der »Räschenwermerzucht« förmlich hineingebohrt habe. »Die ganze Detsche Demekretsche Repeblek blickt mit tiefem Stolz auf euch, ihr Wurmvermehrer, und im Namen des Wurms rufe ich euch zu: Vorwärts immer, rückwärts nimmer!« Perfekt ahmte er den Jargon der Partei, ihrer Köpfe und ihrer Organe nach. Dieser Jargon hat kein Vertrauen in die Worte, alles muss doppelt und dreifach gesagt und hinten und vorne abgesichert werden. Einsatz ist immer aufopferungsvoll, Veränderung immer tiefgreifend, Beschlüsse sind immer weitreichend, aus Personen werden immer Persönlichkeiten. Diese Sprache ist das Rufen im Walde, die reinste Selbstbeschwörung. Nimm doch nur mal die Städtenamen: Lutherstadt Wittenberg, Wilhelm-Pieck-Stadt Guben, Messestadt Leipzig, Hansestadt Rostock. Als würde es nicht reichen, einfach den Namen zu nennen, als brauche der Name eine Stütze. Oder nimm die Grußworte, die Staatsempfänge, die Parteitage, die Umzüge und Paraden, das ganze lächerliche Zeremoniell. Alle spielen ein Land. Ein rechtschaffenes Land, in dem die Erde nicht bebt, wo nicht gestreikt, ausgebeutet und gestorben wird. Ein Land, dessen Seen und Geschichte nicht verunreinigt sind, wo Mähdrescher mähen und Kräne schwenken. Kennst du das Land, wo die Futterrübe glüht? Meine Heimat? Das sind nicht nur die Flüsse und See-hön. Meine Heimat, das sind auch all die Vögöl im Wald. Und die Mänschön. – Wie soll man da
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