Das halbe Haus: Roman (German Edition)
verdammt noch mal, ist nur mit ihm los? Ist er vielleicht was Besseres? Ist er der Papst aller Päpste, der Papstpapst, der Fidibus, der Heiland aller Welt zugleich? Fühlt sich nicht so an, im Bademantel dasitzend und die Fusseln aus seinem Bauchnabel pulend. Er dreht eine Kugel aus dem Nabelgewölle, schnippt sie in den Raum und schließt den Bademantel wieder. Vielleicht sollte er mal in die Wüste ziehen und sich um den kleinen Prinzen bemühen. Vielleicht sollte er sich mal um diese Frauen bemühen, um eine Frau. Vielleicht sollte er anfangen, mit dem Herzen zu sehen. Aber dafür müsste es erst mal Augen haben, sein Herz. Als er einmal Messungen machte, hinten bei Bölitz-Ehrenberg – oder war es Borna, oder war es Bitterfeld? –, da wohnte er in einer Pension, deren einziger Gast er war. Es war in den Jahren nach Friederikes Tod, als er schon in der Früh soff. Vom Fenster seines kargen Zimmers aus konnte er in die Räume des gegenüberliegenden Hauses sehen. Dessen Fassade war schwarz wie alle Fassaden, davor standen bleifarbene Mülltonnen. An zwei Fensterflügeln im Hochparterre klebten Scherenschnitte – Elefant, Giraffe, Känguru –, und dahinter erschien ein weiterer Scherenschnitt: der einer Frau. Es war die Silhouette einer jungen Mutter, die einen Säugling vor der Brust trug. Als sie das Kind vor sich auf den Wickeltisch legte, konnte er erkennen, dass sie nackt war. Ihre Brüste waren voll, und er sah den Ansatz ihrer Scham. Mit Hingabe wickelte sie ihr Kind, von dem er nur die speckigen Beine erblickte. Als sie fertig war, küsste sie die Fußsohlen des Babys. Ihr Haar war offen, ihr Gesicht nicht zu erkennen. Hastig trank er einen letzten Schluck, warf die halb volle Wodkaflasche in den Papierkorb und sprang in seine Klamotten. Er stürmte aus der Pension über die Straße vor das Fenster mit den Scherenschnitten, stellte sich auf die Zehenspitzen und klopfte an die schmutzige Scheibe, in der sich die Tiere regten, bevor sie ausbrachen. Ein Handtuch vor die Brust haltend, beugte sich die junge Mutter heraus, der Blick ohne Neugier oder Angst. Er logiere gegenüber, sagte er. Er habe Messungen hier gemacht in der Gegend, Schadstoffe, saure Niederschläge, Schwefel, Staub, Kohlenmonoxid, dergleichen. Es sei nicht gut hier für Kleinkinder, sagte er. Krupp, Pseudokrupp, Asthma, Bronchitis. Sie solle wegziehen, ins Grüne, weg aus dieser Gegend. A hard rain’s a-gonna fall, dachte er. Sie müsse erst das Kind stillen, sagte sie. Es würde dann für zwei Stunden schlafen, und sie könne sich etwas Zeit nehmen. – »Zimmer elf«, sagte er, und sie schloss das Fenster. Eine halbe Stunde später klopfte es an seiner Tür. Sie roch nach Vanille. Mit dem Daumen fuhr er die braune Linie entlang, die ihren Bauch vom Nabel bis in den Schoß teilte. »Du musst hier weg«, sagte er. – »Ja«, sagte sie. Er holte die Wodkaflasche aus dem Müll, sie tranken abwechselnd aus der Flasche. Das Kind würde gleich aufwachen und wolle dann gestillt werden, sagte sie schließlich und zog sich an. Für einen Moment hatte er geglaubt, sie und sich retten zu können. Weil er nichts von sich versteht, versteht er auch nichts von den Frauen. Er kann keinen klaren Gedanken fassen, die Lichter sind an, aber niemand ist zu Hause. Vielleicht wird er verrückt? Vor ein paar Tagen sah er seine Mutter auf der Straße, eine Frau im Karakulmantel, mit zwei Netzen, er ging zu ihr, griff nach den Netzen. Sie drehte sich um, und in ihrem Gesicht war nur Verwunderung, kein Erkennen. Er entschuldigte sich bei der fremden Frau. Den ganzen Winter über liefen sie Schlittschuh auf den zugefrorenen Seen und den Kiesgruben. Statt mit einem Puck spielten sie mit einem halben Brikett Eishockey. Mit jedem Schlag wurde das Kohlestück kl einer, bis es nur noch die Größe einer Murmel hatte, die er mit einem einzigen Schlag pulverisierte, woran er fast verzweifelte. »Du brauchst eine anspruchsvolle Frau in deinem Leben, eine, die Erwartungen an dich stellt«, hatte Anita zu ihm gesagt, »sonst wird das nüscht.« Die schlaue Anita bewachte ihn, das merkte er. Vielleicht war sie ein bisschen verschossen in ihn, vielleicht war es nur Mitleid oder gar Nächstenliebe. Als langjährige Sekretärin kannte sie jeden in der Abteilung auf das Genaueste, wusste alles über alle, und wenn nötig, wusch sie ihm oder dem Chef den Kopf. So auch am Tag der Zivilschutzübung, dem Vorspiel zu allen anderen Katastrophen und Unglaublichkeiten der
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