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Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Titel: Das halbe Haus: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Cynybulk
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letzten Zeit. Akt eins, sozusagen. Wobei das nicht stimmt, Akt eins war Mutters Ausreise, er hatte geheult. Doch vielleicht ist alles auch schon viel früher losgegangen, wer weiß, wo der Treppenwitz seiner Verzweiflung seinen Anfang genommen hat. Im Betrieb kam der Alarm zehn nach acht. Wie immer war er der Letzte gewesen, der morgens eintraf. Anita hatte ihm noch nicht einmal eine Tasse Kaffee auf seinen leeren Schreibtisch gestellt, da begannen die Sirenen mit ihrem Geheul. Drei Minuten lang, im Fünfsekundenabstand an- und abschwellend. Mit dem Ausklingen platzte Langrock in sein Büro und japste: »Luftalarm. Mir machen in’ Bunker.« Vor Schreck hatte er sein Gewandhaussächsisch verloren und polterte fort. Ihm war überhaupt nicht klar, dass es einen Bunker gab. »Anita, wir haben einen Bunker?« – »Du kriegst wohl gar nichts mehr mit«, sagte sie und schob ihn in den Gang, an dessen Ende sich der Raum mit den Proben befand. Es war eine vier auf fünf Meter große Kammer, an deren fensterlosen Wänden hohe Regale standen, in denen Erd-, Gesteins-, Wasser- und sogar Luftproben lagerten. In Gläsern, Büchsen, Schachteln und bleiernen Kolben wurden Kadmiumerde, Silbernitratwasser, Ammoniakrost, Phosphatkrume, Feinstaub aus Kalk-, Schwefel- und Asbestpartikeln und sogar Pechblende aufbewahrt. Es war die Chronik jahrelangen Missbrauchs und Schindluders, geschrieben von den chemischen Kombinaten, den Heizkraftwerken, der Plaste-und-Elaste-Produktion, der Metallurgie, der Elektrotechnik, der Agrarwirtschaft, der Bau-, Schwer- und Kraftverkehrsindustrie der Deutschen Demokratischen Republik. Ob in der Börde, ob an der Küste oder auf den bescheidenen Anhöhen – in diesem Land stank und giftete und rußte es wie in der Hölle, und die Beweise waren in eben dieser Kammer eingelagert, gesichert und analysiert von ihm und seinen Kollegen. Sie schrieben Berichte, machten Eingaben, es änderte nichts. Anita öffnete die Stahltür, und vor ihnen fiel ein Folienvorhang von der Decke. Er schob den Vorhang zur Seite und sah: kein Regal und keine Proben. Stattdessen nackte Wände und ein Kühlschrank, ein Trockenklosett, ein Klapptisch mit elektrischer Kochplatte. Auf Campingliegen hockten seine Kollegen: Langrock, Inge, Dr. Spohn, Emmerich, Rudi und die anderen. Ihm war, als fehlte die Hälfte. »Wo sind all unsere Proben?«, fragte er. – »Da sind Sie ja endlich«, sagte Langrock, der sich eine Armeedecke über die Schultern gelegt hatte. »Sie sind der Letzte, wie immer. Machen Sie die Tür zu.« – »Das ist doch nicht Ihr Ernst, Kollege Langrock. Wir sind doch alle vernünftige Menschen, Ingenieure, Wissenschaftler, wir wissen doch, dass so was im Ernstfall nichts bringt.« – »Friedrich, sparen Sie sich Ihr Querulantentum, und kommen Sie hier rein. Und Frau Ullrich, seien Sie so freundlich und warten mit den anderen unten in der Kantine, bis die Übung vorbei ist.« – »Wieso muss Anita nicht hier rein? Und wo ist die Schmitten? Und Monika?« – »Ist nur für Ingenieure, Geheimnisträger und Genossen«, sagte Rudi matt. – »Ah«, erwiderte er, »wir opfern das Proletariat.« Er hielt Anita am Arm und sagte: »Bleib, du kannst meinen Platz haben. Kannste aber auch genauso gut sein lassen, weil es sinnlos ist.« – »Friedrich, ich warne Sie«, sagte Langrock. – »Kollege Langrock, warum verschließen Sie die Augen vor dem Offensichtlichen? Schutzräume im Radius von zehn Kilometern einer IMT -Oberflächendetonation werden zu einem Ofen für ihre Nutzer. Bei einem Nuklearschlag würde man aus seinem Schutzbunker ins schiere Grauen auftauchen. Dagegen ist die Beschreibung des Jüngsten Gerichts ein Zeichentrickfilm. Eine unvorstellbare Apokalypse, die Sie mit Letscho und Limo zu überleben glauben?« Er war in Fahrt, er hatte Esprit. Langrock warf die Decke ab und sagte mit viel Spucke: »Wenn Sie jetzt nicht sofort reinkommen, wird das Konsequenzen haben.« – »Ich mache da nicht mit«, sagte er. Zum ersten Mal formulierte er klar und deutlich, dass er bei etwas, das ihn abstieß, nicht mitmache. Es fühlte sich großartig und beängstigend an. Als sich Anita anschickte zu gehen, stand Langrock auf und herrschte sie an: »Wo wollen Sie denn hin?« – »Na, wieder raus, in die Kantine, das soll ich doch«, antwortete sie. – »Jetzt bleiben Sie schon hier, verdammt noch mal. Wir lassen doch niemanden zurück.« – Anita sagte »Nö!« und schälte sich aus dem Folienvorhang. –

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