Das halbe Haus: Roman (German Edition)
und mit Gasmasken vorm Gesicht auf die Kegelbahn der Sportgaststätte »Rotation« zu. Das Mädchen allerdings gerät in Panik, bekommt Schnappatmung und erbricht sich in die Maske. In ihrer Freizeit spielt sie Cello und singt im Chor. Die beiden anderen befreien sie von Maske und Umhang und bringen sie in die nächstgelegene Poliklinik, ohne dass sich der GST -Mann oder die Lehrerin gezeigt hätten. Wenn das sein Kind wäre, hätte er nicht so bartlos dahergeredet. Am Ende jedenfalls hat der Sozialismus gesiegt. Mit fröhlichen Liedern klingt das Manöverspiel aus, Auswertung und Belobigungen sollen am nächsten Montag beim Schulappell erfolgen. – Als er das hört, als ihm Jakob das hinterbringt, stockend vor Scham, sieht er rot. Die Übung im Betrieb hat er noch als Kuriosität betrachtet. Dass aber Kinder Atomkrieg spielen, dass sein Sohn den Klassenfeind darstellen muss, das bringt das Fass zum Überlaufen. Am nächsten Morgen ordnet er an, dass Jakob sein Halstuch und seinen Pionierausweis mit zur Schule nimmt. Im Gang vor der Turnhalle warten sie das Ende des Morgenappells ab. Als sich das Geviert auflöst und die Schüler durch die Pendeltür strömen, drängen sie sich gegen den Pulk, bis sie vor eine Gruppe Lehrer gespült werden, darunter Fräulein Papaioannou, Jakobs Klassenlehrerin. Das Fräulein trägt Blauhemd, hat ein ovales Gesicht mit länglicher Nase, ausgeprägtem Mundbogen und hohen Brauenschwüngen. Aus einem scharfen Scheitel fällt üppiges dunkles Haar auf ihre Schultern. Sie hält eine Gitarre am Hals, deren Körper voller bunter Aufkleber ist, ein blauer mit weißer Friedenstaube ist auch darunter. How many seas must a white dove sail? Als er mit seinem Sohn vor ihr steht, bringt sie es fertig, ihre hohen Brauen noch höher zu biegen. Ob es eine Entschuldigung für Jakobs Abwesenheit heute Morgen gebe? – Zuerst einmal wolle er eine Entschuldigung für das, was mit seinem Kind am Wochenende angestellt worden sei, schnauzt er sie an. Ein Kriegsspiel sei das gewesen, ein makabres. Ob denn dieses Land nicht schon genug Unheil angerichtet habe mit dem Kriegspielen. Sie als gebürtige Griechin wisse das vielleicht nicht so recht, aber es verbiete sich ja wohl ein für alle Mal, deutsche Kinder für den Krieg auszubilden. Wie pervers seien sie denn allesamt. Er blickt in die schweigende Runde und sieht seinen alten Erdkundelehrer an, der zu Boden schaut. »Herr Baudach, Sie waren doch im Kessel, sagen Sie doch mal was.« Stattdessen ergreift das Fräulein das Wort, doch sie kann gerade mal »antifaschistisches Deutschland«, »Friedenswacht« und »kämpfen wollen, um nicht kämpfen zu müssen« sagen, dann schleudert er ihr Jakobs Halstuch und den Pionierausweis vor die Füße. »Wir treten aus!«, schreit er und zerrt seinen Sohn fort. »Wir treten aus!« Natürlich haben etliche Schüler die Szene verfolgt, und nahezu alle Lehrer waren anwesend. Nie ist ein Kind gründlicher blamiert worden, nie hat sich ein Vater weniger beherrscht. Wenn er daran denkt, welchen Schikanen Jakob nun ausgesetzt sein wird, dreht sich ihm der Magen um. Unter normalen Umständen hätte er dem Fräulein den Hof gemacht, er hätte ihr die Borniertheit ausgetrieben mit allen Mitteln der Kunst, mit Musik, Kerzenschein und seinen kundigen Händen. Sie hätten ein Gitarrenduett gespielt, eine Sarabande, danach hätten sie ohne Instrumente weitergespielt. Jetzt aber wird sie sich an seinem Jungen rächen, so viel ist sicher. In Jakobs Haut möchte er nicht stecken, in seiner übrigens auch nicht. Und jetzt fällt ihm auch ein, wie dieses Wegwischding heißt, der mit Quarzsand gefüllte Monitor: Zaubertafel. Das ist es, was er braucht, eine Zaubertafel zum Wegwischen. Das Saufen ist ja eine Art Zaubertafel, so könnte man es sehen, und einen Abend lang hilft es. Am Morgen danach nicht mehr. Er müsste jetzt aufstehen, zum Tischchen gehen, sich irgendwas einschenken und weitersaufen, die Bildermaschine lahmlegen. In letzter Zeit sind einfach zu viele miese Bilder entstanden, und kaum denkt er das, steht wieder der ABV vor dem Zaun, korrekt, freundlich grüßend, man kann ihm nichts vorwerfen, alles hat seine Ordnung, er ist nur eines von vielen Schweinen in diesem riesigen Schweinestall. Weil er keine Zaubertafel hat, kommt also das nächste Scheißbild: Es ist Rosenmontag, und Voss, der Abschnittsbevollmächtigte der Polizei, steht mit Uniformmantel, Wintermütze und rosigen Wangen vor dem Zaun und freut sich still auf
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