Das halbe Haus: Roman (German Edition)
kommste nicht mal rüber zu mir?«, ruft der Rüpel von eben, ohne viel Mut. Sie vernichtet ihn mit einem Augenaufschlag und bleibt allein vor Frank stehen. Alle können es sehen. Ich bin kein Kannibale mehr, denkt er, und auch kein Teppichverkäufer. In diesem Moment bin ich so was wie ein Baron. Zumindest ein Rittmeister oder Konsul, vielleicht ein Graf. Jedenfalls was Besonderes, was Adliges.
Als er sie von hinten studiert, ist da wieder das Ziehen, das ein Brennen wird. Er erfasst ihren langen Hals, den langen Rücken mit dem gedehnten Tal, aus dem sich ein bravouröser Arsch wölbt, der sich selbst applaudiert. Armer Mann, denkt er, armes Männchen. Jetzt bin ich auf einmal der siebte Gartenzwerg und doch kein Chevalier. Zurück am Pavillon wendet sie sich noch einmal um und schenkt ihm ein Lächeln: Ihre Seele zeigt sich. Zweifellos hat sie einen höheren Begriff von sich. Vielleicht kann er durch sie auch einen höheren Begriff von sich erlangen.
»Papa«, sagt Jakob, »lebst du noch?«
»Weiß nicht«, sagt er wahrheitsgemäß.
Nach der Schau sitzen alle zusammen in einem Gartenlokal: Jennys Leute, die Musiker, Frank, Jakob, Eva und Leonore. Unter blühenden Kastanien hat der Wirt vier Tische zusammengeschoben und mit weißen Tüchern gedeckt. Darauf stehen Karaffen mit Wasser und Wein, Brotkörbe, Schüsseln mit Quark, Töpfchen mit Schmalz und Platten mit kaltem Braten, Gurken und Zwiebelringen, der Käse ist mit Paprikapulver bestreut. Frank und Jakob sitzen Eva und Leonore gegenüber. Alle trinken und essen, für die Kinder gibt es einen Krug Waldmeisterbrause. Die Sonne steht tief.
Der Abverkauf war optimal, morgen wird die Truppe leer zurückfahren. Jenny Posner ist in Plauderlaune. Sie hat ihre richtige Sprache wiedergefunden und erzählt, wie alles anfing.
Angefangen hat es vor zwei Jahren. Da hat sie ihre feste Anstellung als Modejournalistin aufgegeben, um im Prenzlauer Berg ihr eigenes Atelier zu eröffnen. Leben kann sie janz jut davon. Zuerst sind sie zu dritt, bald schon muss sie Näherinnen und Gestalter anheuern, denn alles wird ihr aus der Hand gerissen. Antragsteller, die ihren Beruf nicht mehr ausüben können, arbeiten für sie. Da gibt es einen Harfenspieler, der sich zu einem Nähmaschinenvirtuosen gemausert hat, sowohl an der Veritas als auch an der alten Singer, die sie im Atelier zu stehen hat. Ein Zahnfummler fummelt für sie niedlichen Drahtschmuck zusammen, und ein Bibliothekar will nix anderes mehr als Strohhüte flechten. Wenn sie morgens um zehne ihre Butike in der Knaackstraße öffnet, steht die Kundschaft oft in Doppelreihe an. Als gäb’s Appelsinen. Material zu beschaffen ist das Schwierigste. Mit der Zeit aber kennt sie ihre Pappenheimer: Die Lagerarbeiter der Gewerbemesse zweigen Stoffballen für sie ab, bulgarische Händler organisieren Baumwolle, und dann hat sie da noch einen Verehrer von der pakistanischen Botschaft, der sie mit Sari-Stoffen versorgt. Man muss eben erfinderisch sein in diesem Land, in dem jeder Rohstoff knapp ist, jetzt mal abgesehen von Weiß- und Rotkohl. Aus zwei Unterröcken macht sie ein enganliegendes Abendkleid in Indigoblau. Großmutters Leinenlaken werden zu weiten Hosen im Dietrich-Stil umgebamselt. Die Schnittmuster überträgt sie auf die Seiten des Neuen Deutschland, dann isses och mal zu was nütze. Molton-Tücher, die eigentlich Baby-Popos trocken halten sollen, werden zu Folklore-Blusen, aus wattiertem Arbeitszeug im Mao-Look entstehen bunte Jacken, die sie nächtelang mit Pailletten, Filz oder Seide bestickt, tolle Friemelei. Mit durchsichtigem Nagellack überzogene Kürbiskerne und Nudelsterne fädelt sie zu langen Ketten auf. Dit Essen nich im, sondern am Halse. Ihre große Liebe aber, das sind die Modenschauen. Als sie damit anfängt, rennen die Mädels ihr sofort die Bude ein. Die wollen nix lieber sein als Mannequins. Dressmen aber sind schwer zu finden – solche, die was taugen. Natürlich beknien sie die Homos, für sie laufen zu dürfen. Sie probiert Tänzer, Baggerfahrer, Studenten und einen Liedermacher aus, der die Jeschmeidichkeit einer Stabheuschrecke hat. Irgendwann gibt ihr Ruth den Tipp mit dem Tennisplatz. Direkt vom roten Sand weg hat sie Thor und René mitgeschleift.
»Meine Boys«, sagt sie, lächelt nach links und rechts, stößt mit dem einen und dem anderen an, küsst den einen und den anderen.
Während Jenny redet, betrachtet Frank Bella alias Eva. Er versucht, nicht zu stieren, will vermeiden, dass
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