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Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Titel: Das halbe Haus: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Cynybulk
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sich ihre Blicke kreuzen, denn auch sie ermittelt ihn. Sie hat patente Hände, schlank und doch tüchtig. Die Fingernägel sind kurz geschnitten und nicht lackiert. Diese Hände können gewiss gut nähen, Zöpfe flechten, ein Pflaster aufkleben, Tränen trocknen und streicheln sicher auch. An keinem Finger ist ein Ring zu sehen. Auf ihrem Dekolleté findet er eine Narbe, dort, wo ein Leberfleck oder Muttermal entfernt worden ist. Einmal treffen sich ihre Blicke doch, und er sieht die Einschlüsse in ihrem Augenweiß, Absplitterungen der Iris, die das Dunkelgrün der Feen hat. Ganz bewusst hat die Natur kleine Ungenauigkeiten und Fehler hinterlassen, um zu demonstrieren, dass ihre Schönheit außerhalb der Ordnung liegt. In ihrer Ohrmuschel nisten Krebse, der Ohrsaum ist durchsichtig und rotglänzend wie Granatenkern. Ich schwärme, denkt er, kann mir mal jemand eine scheuern?
    Nachdem Jenny geendet hat, kommt die Rede auf den vergangenen Winter und die langen Wochen in Eis und Schnee. Sie sprechen über die zugefrorenen Seen, und Frank beschreibt das Geräusch, das entsteht, wenn sich ein Riss ins Eis schneidet. »Als würde die Sehne eines riesigen Klangbogens reißen«, sagt er, »mit einem kosmischen Hall.«
    Eva sagt: »Sie sind ein Dichter. Und ›kosmisch‹ ist eines Ihrer Lieblingsworte.«
    »Wieso?«, meint Jenny. »Er sagt es doch zum ersten Mal.«
    Sie lächeln sich an und reden über das Schlittschuhlaufen, als sei es die schönste Sache der Welt. Es mache den Kopf frei, sagt Frank und denkt, dass »kosmisch« nicht sein Wort ist. Es ist ein Leihwort. Er fragt Eva, ob sie übersetzen könne.
    »Ja«, sagt sie. »Auch rückwärts.«
    »Das ist ja ganz wunderbar«, sagt er.
    »Im Frühling redet ihr übers Eislaufen«, beschwert sich Jenny.
    »Den beiden muss alle Dämlichkeit nachgesehen werden«, sagt René, und dann fällt ein Weinglas um. Der rote Wein läuft über die Tischdecke und hinterlässt einen Fleck auf Evas weißem Kleid, in ihrem Schoß. Sie macht keine Anstalten, mit ihrer Tochter zu schimpfen. Frank beklagt, dass das schöne Kleid nun verdorben sei. Er schraubt den Deckel vom Salzstreuer und sagt, dass Salz und kaltes Wasser das Kleid vielleicht retten könnten. Aus der Kollektion könne sie jederzeit ein neues bekommen, sagt Eva. »Nicht wahr, Jenny?«
    »Kommt janz uff den Anlass an.«
    Als das Schweigen schwer wird, fragt Eva: »Wieso ist Paella Ihr Lieblingsessen?« Mit der Gabel sortiert sie die Zwiebelringe an den Rand ihres Tellers. Leonore will Frank mit ihrem Blick wehtun, und Jakob hat Hummeln im Hintern.
    »Warum denn auf einmal Paella?«, fragt Jenny.
    Rau sagt Frank: »Wollen wir nicht Du sagen?«
    »Eva«, sagt sie und hebt ihr neu gefülltes Glas.
    »Frank«, sagt er und stößt mit ihr an.
    »Wieso essen Sie, isst du es am liebsten?« Ihre Brauen sind seidig, ihre Stirn ist schattig.
    Mit der rechten Hand greift er sich ins Genick. »Es ist ein nahezu perfektes Essen. Es enthält den Himmel, die Erde und das Wasser. Huhn, Reis, Fisch.«
    »Aber in eine echte Paella gehören gar keine Meerestiere, glaube ich.«
    »Tatsächlich? Mir hat mal jemand gesagt, dass ein spanischer Schriftsteller geschrieben habe, Paella sei genau so: dreifaltig. Ein Abbild der Schöpfung.«
    »Wer sagt denn so etwas?«
    Er führt sein leeres Glas an die Lippen. Sie weiß, dass man Paella nie allein isst.
    »Also welcher Schriftsteller?«
    »Ich habe es mir nicht gemerkt.«
    »Und wo hast du es zum ersten Mal gegessen?«
    Er macht ein nachdenkliches Gesicht.
    »Etwa in Spanien?«, hilft sie ihm. Sie quält ihn, und sie hilft ihm. Er fragt sie doch auch nicht nach dem Vater ihrer Tochter. Nach ihrem Schicksalsschlag.
    »Nein, leider nein«, sagt er. »Bin kein Reisekader.«
    Bereits jetzt kann sich alles entscheiden. Wenn sie als Nächstes fragt, mit wem er Paella gegessen hat, dann geht es schon um alles. Dann muss er eine Entscheidung fällen und die Zukunft sofort entscheiden. Er könnte lügen und sagen: »Mit Freunden.« Zur eigenen Belustigung könnte er sagen: »Mit meiner Mutter, sie liebt diese Art von Speisen.« Aber das Lügen hat er für die Lügner reserviert, das Lügen würde alles sofort zunichte machen. Er würde diese Frau nicht belügen, er würde höchstens sich selbst belügen. Allerdings könnte er eine Sperre errichten und antworten: »Das will ich nicht sagen.« Es wäre beleidigend. Also bleibt ihm nur die Wahrheit. Aber auch die ist elastisch. Er könnte sagen: »Mit einer

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