Das halbe Haus: Roman (German Edition)
Kinderheime, -gärten und -krippen beherbergen, sind stumme Zeugen dieser Epoche. Manche sagen, Sandau sei vornehmer als Bad Itz gewesen.
Frank kommt an leeren Pflanzkübeln aus Waschbeton, HO -Kiosken aus Asbest und langen Beeten mit violetten oder gelben Stiefmütterchen vorbei. Zwischen den Gehwegplatten wächst Löwenzahn. Die Dächer der Teehäuschen und Pagoden sind mit Teerpappe geflickt und die alten Gaslaternen durch überhohe Lampen ersetzt, die eine Krause aus fünf Lautsprechern haben.
Diese verkünden, dass um 16 Uhr eine Modenschau stattfinden wird. Frank muss lächeln: Aber nur, wenn sie es rechtzeitig schaffen mit ihrem klapprigen Bus. Auch in den Glaskästen und auf den Informationstafeln wird die Show angekündigt. Ein Schwarzweißplakat zeigt eines der Mannequins: Ihre hellen Haare sind kunstvoll geflochten und entblößen den Hals, ihre dunklen Augen sehen ihn an. Als einzigen Schmuck hat sie Tollkirschen angelegt, statt Ohrringen. Sie trägt ein schulterfreies Kleid in Weiß, vielleicht ein Hochzeitskleid. Es ist die englische Frau, Bella. Er liest, dass die Modenschau am Pavillon im Kurgarten stattfindet.
Die Besucher strömen zur Gartenmitte, und Frank folgt ihnen. Einige ältere Herrschaften in Salz und Pfeffer promenieren über die Wege, als schritten sie durch ein anderes Jahrhundert. Lachende Mädchen in Blauhemden überholen sie und reihen sich in eine Menschenschlange vor einem Kassenhäuschen ein. Wieder tönen die Lautsprecher: »Aus der Hauptstadt der DDR : Mode für die Frau und den Mann von heute. Mannequins und Dressmen führen praktische und festliche Frühjahrs- und Sommerkleidung vor, entworfen und gefertigt vom Atelier Jenny Posner aus Berlin. Bewundern Sie den neuen Schick in Strick, den Safari-Stil und die Strandmoden der Saison. Der Höhepunkt der heutigen Schau mit musikalischer Begleitung sind Kleider für die Feste des Lebens. Beginn ist um 16 Uhr am Pavillon im Kurgarten.«
Hinter dem Kassenhäuschen sieht man den Rundbau, zwischen dessen Säulen heller Markisenstoff gespannt ist. Im Schatten des Pavillons stehen ein Barkas und ein HP 500 in Tiffany Blue. Frank dreht ab. Er rennt los, um seinen Sohn aufzuwecken. Er braucht kein Versteck.
Sämtliche Plätze sind belegt. Er lässt seinen Blick über die vielen Köpfe wandern: Graue Scheitel, blondierte und toupierte Frisuren, elegante Damenhüte, steife Uniformmützen, Filzbarette mit Zipfel und lederne Politbüro-Töpfe reihen sich aneinander. Vor Jakob schiebt er sich durch die engen Stuhlreihen. Zum Ärger älterer Herrschaften schäkern die jungen Frauen im Blauhemd mit einer Gruppe Offiziersanwärter. Damen in Seide sitzen neben Grobianen, die das Wort »Strandmoden« angelockt hat.
Nur in der ersten Reihe sind noch zwei Plätze frei, reserviert durch je ein dickes Buch. Es sind die zwei Bände von »Schuld und Sühne«. Sie setzen sich, und er legt Bücher und Kirschzweige unter seinen Stuhl.
Direkt vor ihnen, keine Armlänge entfernt, verzweigt sich ein langer, schmaler Laufsteg nach links und rechts. Der von Geranien begrenzte Steg nimmt seinen Anfang am Pavillon und bildet dann das Dach eines T. Im linken Winkel ist eine Holzbühne errichtet worden, auf der vier Musiker in weißen Anzügen stehen. An einem Mikrofonständer wartet eine junge Frau mit kurzem Haar: die Sängerin, die nichts zu singen hat außer »daba-daba-du«. Neben ihr steht eine große blonde Frau im Hosenanzug, die am ausgestreckten Arm ein zweites Mikrofon hin und her pendeln lässt. Ihre Frisur erinnert an die Filmstars der Goldenen Zwanziger. Mit einem Zwinkern begrüßt sie Frank und Jakob. Als die Band einen Tusch spielt, hebt sie lächelnd das Mikrofon zum Mund. Für die nächste Stunde wird sie es nicht mehr herunternehmen.
»Bonjour, welcome, buon giorno und herzlich willkommen, verehrte Damen, verehrte Herren und liebe Kinder«, sagt Jenny Posner. Ihr Akzent ist verschwunden. »Aus der Modemetropole Berlin sind wir zu Ihnen gekommen, um Ihnen die romantischsten Kleider, die lässigsten Outfits und die festlichsten Roben dieser Frühjahrs- und Sommersaison zu präsentieren.« Ihr Singsang kommt aus der Nase und schmiegt sich dem Rhythmus der Musik an. Mit weichen Gesten begleitet sie ihn. »›Herz ist Trumpf‹, lautet das Motto unserer Schau. Ich hoffe, Sie amüsieren sich ein wenig dabei, lassen sich inspirieren und finden womöglich das eine oder andere Teil, das Sie im Anschluss erwerben wollen. Für die Herren haben
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