Das halbe Haus: Roman (German Edition)
Freundin.« Er könnte sagen: »Mit Friederike.« Er könnte sagen: »Mit Jakobs Mutter.« Er könnte sagen: »Mit Jakobs zukünftiger Mutter«, oder: »Mit meiner damaligen Freundin.« »Mit meiner Frau«, könnte er sagen. »Mit meiner späteren / verstorbenen / früheren / ersten Frau.« Das alles wäre wahrheitsgemäß, aber doch nicht die Wahrheit. Jeder Satz bedeutet etwas anderes, der Reinheitsgrad der Sätze unterscheidet sich. Mit diesen Sätzen verhält es sich wie mit den Eheringen: Die meisten beinhalten nur ein Drittel Gold, der Rest ist Kupfer. Selten sind die 585er und so gut wie nie die 750er oder 850er anzutreffen.
Vorerst fragt sie ihn nicht. Sie lehnen sich zurück, und Eva findet ihr Lächeln wieder.
Frank sagt: »In der schönen Stadt Naumburg habe ich es zum ersten Mal gegessen. Dort in der Nähe habe ich studiert.«
Er spürt die Erinnerung als Kribbeln in den Händen und Füßen, als Knistern im Hinterkopf. Er hört das Ticken und Schlagen der Uhren, er schmeckt die Süße, die Säure und die Schärfe.
Seine Mutter hat keine seiner späteren Freundinnen geduldet, und auch Friederike, die seine Frau wurde, hat nie ihre Anerkennung oder Zuneigung gewinnen können. Die Frauen, die Rudolf und Siegmar nach Hause brachten, hieß sie willkommen. Von Franks Mädchen und Frauen aber war keine gut genug. Sie sagte: »Was soll das für ein Essen sein? Dieser Mischmasch.«
Aber Paella war das schönste Mahl, das er je gegessen hatte. So wie die Musik vor vielen Jahren sein Wesen verändert hatte, weckte die Paella seine Sinne auf andere Art und Weise.
Sie kannten sich seit dem Weinfest, hatten den Hund ihres Onkels, einen dusseligen Setter, in der Winterkälte spazieren geführt, als Friederike ihn zu sich nach Hause einlud. Es war Fasching, ihre Schulfreundinnen und seine Kommilitonen verkleideten sich und gingen von Ball zu Ball. Friederike und Frank verkleideten sich nicht, sie entkleideten sich. Ihre Eltern waren verreist, ins nichtsozialistische Ausland, nach Hamburg. Ohne Zögern hatte sie die Regale des Vorratskellers geplündert, in denen die exotischsten Speisen lagerten: Kaviar, Früchte, Rheinwein, Muscheln, Krabben in der Dose. Sie hatte keine Angst vor Schelte. Sie hatte überhaupt keine Angst.
Über die Zubereitung und den höheren Sinn von Paella hatte sie bei einem spanischen Schriftsteller gelesen, der es als ein vollkommenes Essen beschrieb. Es war Wassermahl, Luftgericht und Erdengenuss zugleich, es enthielt die Säure des Weins, die Schärfe des Pfeffers, die Süße der Tomaten und die Farbe des Safrans. Sie sagte, es erinnere sie ein wenig an »Himmel und Erde«, weil es auch die Schöpfung nachahme. Sie fand, dass es für sie beide genau richtig war, auch wenn sie keinen Safran auftreiben konnte.
Auf dem Seidenteppich der dunklen Bürgerswohnung in Naumburg hockend, aßen sie die Paella mit Gabeln aus der Pfanne. Er war dreiundzwanzig, sie einundzwanzig, die Russen hatten Prag in ihrer Hand, sie würden nach Danzig fahren. Drinnen hatten sie es warm. Andächtig verspeiste er den Großteil der Paella, während sie ihn ansah. Schwer und glücklich ließ er sich auf den Teppich sinken. Sie zog ihn aus, dann sich. »Und was ist mit dem Riesen Richard, der Freiersfüße zum Frühstück verspeist?«, fragte er. – »Odysseus kennt keine Angst, sondern einen Trick«, sagte sie. Sie stießen an die große Standuhr, in der sich ihr Sohn, den sie in diesen Stunden zeugten, einst verstecken würde, unter einem bedrohlichen Pendel und zitternden Klangstäben. Reiskörner klebten auf ihrem Bauch, er spülte sie mit kaltem weißem Wein ab, der in ihr Nabeltal rann. Bevor er daraus trinken konnte, rollte sie ihren Bauch in einem Wellengang auf und ab, sodass der Wein über ihren Venushügel rann. Jetzt durfte er davon kosten, mit einem Zungenschlag. Sie liebten sich das ganze Wochenende. Eine um die andere Köstlichkeit holte sie aus dem Keller. Sie fischte Ananasstücke aus der goldschimmernden Dose und garnierte ihn damit.
Als ihre Eltern nach Hause kamen, hatte sie alles notdürftig aufgeräumt. Die Vorräte waren aufgebraucht und die Uhren stehen geblieben. Richard und Erna bemühten sich um den Zorn, aber der Zorn wollte sich nicht einfinden. In ihrer Tochter wuchs zweierlei heran: ein Sohn, dessen Namen sie schon wusste, und der Tod, mit dem sie ein Abkommen geschlossen hatte.
Er versteht nicht, warum ihm das jetzt alles vor Augen steht. Warum nach dem Jubilate ein Lamento folgt.
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