Das halbe Haus: Roman (German Edition)
Warum sich zu dem neuen Glück der alte Schmerz gesellt, warum alles nebeneinander herläuft, warum das Vergessen nicht hält, warum Friederike zu Eva tritt, warum roter zu weißem Wein wird.
»Schlafenszeit«, sagt er zu Jakob, der zum dritten Mal gegähnt hat. Inzwischen brennen Kerzen auf dem Tisch. Leonore ist längst ins Bett gegangen, ebenfalls ins Grandhotel, wo auch Jennys Truppe übernachtet. Eva hat leise mit ihrer Tochter gesprochen, Leonore hat ihr den Gutenachtkuss verweigert und sich weder von Frank noch sonst wem verabschiedet. Jakob hebt die Hand und sagt »Gute Nacht« in die Runde. – »Schlaft gut«, sagt Eva.
Die Laternen und die Kerzen der Kastanien leuchten ihnen den Weg. Frank fällt ein, dass er die Kirschzweige und die Bücher unter seinem Stuhl am Pavillon vergessen hat. Nachdem er Jakob aufs Zimmer gebracht hat, kann er sie holen gehen und ihr geben. Sie könnten dann noch ein paar Worte wechseln, noch einen Schluck vom Roten trinken. Er könnte sie nach Leonores Vater fragen, könnte fragen, wie der gestorben ist. Er könnte ihr erzählen, dass Friederike am Krebs verreckt ist und weil die Ärzte gepfuscht haben. Er könnte ihr erklären, warum er nie wieder Paella essen wird.
Schweigend geht er mit Jakob über den langen Flur. Normalerweise müsste er jetzt bei ihm nachhorchen, wie er Eva findet. So machen sie es immer, diesmal nicht. Er öffnet die Tür. Im Zimmer brennt Licht. Auf der einen Seite des Bettes liegt noch immer Jakobs Schlafanzug, auf der anderen liegt Leonore, angekleidet auf der geblümten Überdecke.
Frank nimmt seine Gitarre. »Schlaft gut«, sagt er und schließt die gepolsterte Tür hinter sich.
Er geht den Gang hinunter. Tag der Befreiung – welch ein Tag! Wir könnten ein Paar sein, das Gott und den Menschen gefällt.
Noch weiß er nicht, was sich hinter dem c/o verbirgt, noch kennt er nicht ihre Geschichte. Er weiß nur, dass er sie schon liebt und dass es ungenau ist.
Denn wie haltbar ist die Liebe, wenn sie mit Fragen beginnt. Wie vertrauensvoll, wenn nicht alle Namen gesagt werden. Wie einzigartig, wenn sie aus einer anderen Liebe erwächst. Wen meint das Liebesgefühl, wer wird geliebt. Wie können Leihworte und der erste Blick eine Liebe besiegeln. Wie kann alles ganz rein sein, wenn das Leben schon so weit fortgeschrieben ist. Wie soll das gut gehen, wenn einer weg will, westwärts.
Nun hat er aber schon die Gitarre in der Hand.
11. Luft
Ende Juno blüht der Klee. Die Blindschleichen ziehen in die Büsche, und das Gras riecht nach Marzipan. Die Tage sind am weitesten, Ende Juno, wenn das helle Grün ins dunkle geht, bevor die Gelbheit kommt, im Julei. Zuerst merkt man nicht, wie das Jahr kippt, von Juno zu Julei, bis der Julei mit fettem Arsch auf der Wippe hockt, während der Juno oben zappelt, bevor dann der August beide verscheucht und ganz allein sein Spiel spielt. Spätestens dann weiß man gar nicht mehr, wie es war, im Juno, als zugleich der Holunder blühte und eben auch die Linde. Dann erinnert man sich nicht mehr an die unbegreifliche Luft nach dem Gewitter oder daran, dass Akazienblüten am Schuh klebten. Was gesagt wurde, ist Schall, und was getan wurde, ist Rauch. Es dauert ein halbes Leben, bis es wieder da ist, an einem Tag irgendwo im Juno.
»Ihr seid einmal um die Welt gelaufen, jetzt liegen nur noch achthundert Meter vor euch«, wurde gesagt (von dem Mann mit dem Strohhut). – »Kopflosigkeit hilft nur bei Mundgeruch«, wurde gesagt (vom Trainer), und: »Nimm nichts von niemand.« – »So wie ich meinen Sohnemann kenne, wird er zu den Besten gehören«, wurde vom Vater gesagt. – »Schön.« (von der Lady) – »Sehr schön.« (von deren Tochter) – Und von René Kupfer wurde gesagt:
»Du bist unhaarig.«
René Kupfer kauert im Startblock, ein weißes Knie auf der roten Asche, das andere berührt fast seine Wange. Sieben Jungs mit krummen Rücken warten auf das zweite Kommando, nur der achte macht Mätzchen, quatscht dummes Zeug: Kupfer. Er ist größer und breiter als die anderen. Roter Draht sprießt aus seinen Achseln, liegt um seinen Kopf. Irgendwer muss ihm eine Handvoll Sommersprossen ins Gesicht gepfeffert haben, vor seiner Haut verblasst der Schnee. Er trägt das weinrote Trikot von Motor, dem ärgsten Rivalen aus dem Norden der Stadt.
»Aus den Blöcken«, sagt der Kampfrichter und lässt das Klappbrett sinken. Die Jungen der Altersklasse zwölf erheben sich, nur Kupfer sprintet ein paar Meter mit
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