Das Harvard-Konzept
eigene Vorstellung. Dabei werden Gefühle verletzt, die Kommunikation wird immer schwieriger. Im Grunde will keiner Zugeständnisse machen, denn das würde zu immer weiteren Forderungen führen.
Das ist ein klassisches Beispiel für das Feilschen um Positionen. Wenn Sie nun den Prozess nicht hinleiten können zu sachbezogenen Lösungen, vermag vielleicht eine dritte Partei zu helfen. Ein Vermittler kann leichter als die direkt Beteiligten die Menschen von den Problemen trennen und die Diskussion auf Interessen und Optionen lenken. Der oder die Dritte kann darüber hinaus unparteiische Grundlagen für die Lösung von Differenzen vorschlagen. Er oder sie kann auch das Ausdenken von Lösungsvorschlägen von den Entscheidungen abtrennen, die Anzahl der für die Übereinkunft notwendigen Entscheidungsvorgänge reduzieren und beiden Parteien zum Verständnis der Folgen aus der jeweiligen Entscheidung verhelfen. Ein Vorgehen, das dies alles umfasst, ist unter dem Begriff »Ein-Text-Verfahren« bekannt.
Bei der Verhandlung um die Hausentwürfe zwischen Ehefrau und Ehemann wird nun ein unabhängiger Architekt dazugerufen. Man zeigt ihm den letzten Stand der Pläne, der die gegenwärtigen Positionen der beiden darstellt. Nun wird sich nicht jeder klug verhalten, den man als Dritten dazunimmt. Mancher Architekt wird beipielsweise die beiden um nähere Erklärungen ihrer jeweiligen Positionen bitten, sie zu einer ganzen Reihe von Konzessionen drängen – und legt sie damit zu immer stärkerer Fixierung auf spezielle Positionen fest. Das Ein-Text-Verfahren fordert stattdessen ein völlig anderes Verhalten. Der Architekt wird die Eheleute nicht nach |163| ihren Positionen befragen, sondern nach ihren Interessen: nicht wie groß das Erkerfenster werden soll, sondern warum die Frau es gerne haben möchte. »Soll es Morgen- oder Abendsonne bekommen? Soll es zum Hinein- oder zum Hinausschauen sein?« Er fragt dann den Mann: »Wozu brauchen Sie eine Garage? Was möchten Sie denn lagern? Was wollen Sie mit dem Hobbyraum? Darin lesen? Fernsehen? Freunde empfangen? Wann wollen Sie den Hobbyraum benutzen? Tagsüber? Am Wochenende? Am Abend?« Und so weiter.
Der Architekt macht deutlich, dass er keinen der beiden zur Aufgabe von Positionen auffordert. Eher schon wendet er sich den Möglichkeiten für eine Empfehlung an die beiden zu – aber auch das ist nicht sehr wahrscheinlich. In dieser Phase versucht er vor allem Informationen über die Bedürfnisse und Interessen der beiden zu erhalten.
Danach entwirft der Architekt eine Liste dieser Anliegen beider Ehepartner (»Morgensonne, offener Kamin, bequemer Platz zum Lesen, Raum für einen kleinen Laden, Lagerfläche für einen Schneeräumer und einen Mittelklassewagen« usw.). Nacheinander bittet er beide, die Liste kritisch durchzusehen und zu ergänzen oder zu verbessern. Konzessionen zu machen fällt immer schwer; kritisieren ist leichter.
Einige Tage später kommt der Architekt wieder und hat einen groben Entwurf mitgebracht. »Ich selbst bin noch nicht recht zufrieden damit, aber bevor ich weitermache, hätte ich gerne Ihre Kritik dazu.« Der Mann sagt dann etwa: »Was mir daran nicht gefällt? Also zuerst, das Badezimmer ist zu weit vom Schlafraum entfernt. Und für meine Bücher habe ich wohl auch nicht genug Platz. Und wo sollen Gäste hier übernachten?« Danach befragt der Architekt auch die Frau nach ihren Einwänden zu diesem Erstentwurf.
Kurze Zeit später kommt der Architekt wieder, mit einem zweiten Vorschlag, und wieder bittet er um Kritik. »Ich habe die Sache mit dem Badezimmer und mit den Büchern zu lösen gesucht, und die Anregung aufgenommen, dass man das separate Zimmer auch mal als Gästezimmer nutzt. Was meinen Sie dazu?« Je mehr der Plan |164| Gestalt annimmt, um so mehr wird jeder der Ehepartner die neuen Lösungsvorschläge im Zentrum sehen, und nicht die einen oder anderen unwichtigen Details. Die Frau möchte zum Beispiel sicher sein, dass der Architekt ihre wichtigsten Bedürfnisse voll versteht – ohne dass sie deshalb nachgeben muss. Das Selbstwertgefühl keines der Beteiligten – auch nicht des Architekten – ist an den Plan gebunden. Die Ausarbeitung des bestmöglichen Interessenausgleichs im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten ist dabei völlig getrennt von den späteren Entscheidungen und somit frei von der Angst vor übereilter Bindung. Frau und Mann müssen ihre Positionen nicht räumen, aber nun sitzen sie nebeneinander, zumindest
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