Das Haupt der Welt: Historischer Roman (German Edition)
und den Verband erneuerte. Als er fertig war, gab er sich einen Ruck und fragte: »Es ist Gero, nehme ich an?«
Der junge Daleminzer, der einmal Geros Stallknecht gewesen war und solche Furcht vor seinem Herrn gehabt hatte, dass er bei seiner Flucht kaum einen Fuß vor den anderen bekommen hatte, stierte einen Moment vor sich hin, aber sie sahen das Grauen in seinen Augen. Dann nickte er.
»Die Obodriten … haben ihm schwer zu schaffen gemacht«, begann er stockend. »Ich weiß, wie du über die Obodriten denkst, Prinz, aber sie und die Redarier sind die Einzigen, die genügend Krieger haben, um wirklich etwas gegen ihn ausrichten zu können. Na ja, du weißt ja, wie die Dinge sind, die anderen Völker sind zu klein und zu zerstritten. Die Marzanen … wir sind zu ihnen gegangen, wie du damals gesagt hast, und sie haben uns erst nur zähneknirschend aufgenommen. Der Hohepriester hat Milenas Sachsenbalg den Göttern geopfert, als es kam. Aber dann hat er sie zur Frau genommen, und jetzt genießt sie hohes Ansehen, und die meisten sind großzügig und freundlich zu uns. Aber die Marzanen sind kein Kriegervolk, Prinz. Sie sind Bauern. Als Gero mit seinen Truppen anrückte, haben sie sich unterworfen. Jetzt zahlen sie Tribut, und wenn wir Glück haben, lässt er uns zufrieden. Andere sind tapferer und wehren sich, auch wenn sie wissen, dass sie keine Chance haben. Die Krieger der Spreewaren verstecken sich in den Wäldern und überfallen Geros Jagdtrupps und Meldereiter, obwohl er jedes Mal furchtbare Rache nimmt. Die Milzener … Es heißt, er hat ihre Burg dem Erdboden gleichgemacht und keinen leben lassen, so wie er es damals mit uns getan hat.«
Tugomir hatte keine Mühe, das zu glauben, denn es waren die Milzener gewesen, die Geros jungen Vetter geschändet und getötet hatten.
»Und die Heveller?«, fragte er schließlich.
Dervan zuckte die Achseln. »Was kann dein Neffe schon tun? Mit dir und deiner Schwester hier?«
Tugomir hob skeptisch die Augenbrauen. Er hatte nicht vergessen, was seine Vila gesagt hatte: Noch ein paar Jahre, und Dragomir wird den Göttern opfern, damit sie dich bloß nicht heimfinden lassen. Und sie hatte natürlich recht. »Mein Neffe ist ein Fürst, Dervan. Er kann es sich nicht leisten, seine Entscheidungen davon abhängig zu machen, welche Folgen sie für mich oder meine Schwester haben.«
»Vielleicht nicht«, gab Dervan zurück. »Aber auf jeden Fall ist er vorsichtig. Wenn er kämpft, dann aus dem Hinterhalt so wie die Spreewaren. Nur jetzt …« Er brach ab und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was sie jetzt tun werden, nachdem das passiert ist.«
»Nachdem was passiert ist?«, fragte Semela. »Nun red doch endlich, Mann.«
»Gero … sandte Boten aus«, erzählte Dervan. »Sie ließen durchblicken, dass die anhaltenden Kämpfe mit den Obodriten seine Truppen allmählich aufrieben, und er … er lud dreißig slawische Fürsten auf seine Burg nach Meißen zu Verhandlungen. Er lud sie zu einem Gastmahl, versteht ihr.«
Semela zog scharf die Luft ein. »Sag, dass sie nicht hingeritten sind.«
»Aber warum denn nicht?«, entgegnete Dervan, immer noch matt, aber trotzig. »Ich meine, es war ein Gastmahl ! Jetzt tut doch nicht so, als wären sie leichtfertig oder dumm gewesen.«
Tugomir wechselte einen Blick mit Semela. Dann schaute er Dervan wieder an, und er las die Antwort auf seine Frage in dessen Augen, noch ehe er sie stellte. Er musste sich räuspern. »Er hat sie alle ermordet?«
Dervan nickte. Sein Kinn bebte, und dann fing er an zu heulen. Er erstickte sein Schluchzen mit dem unverletzten Arm und murmelte: »Entschuldige, Prinz …«
Tugomir war gefährlich nahe daran, sich ihm anzuschließen, so groß war seine Erschütterung. Er sank auf einen der Schemel, weil er seinen Beinen plötzlich nicht mehr trauen konnte.
Es gab beinah nichts, was Sachsen und Slawen gemeinsam hatten. Doch die Gesetze der Gastfreundschaft waren bei beiden Völkern gleichermaßen heilig. Unumstößlich. Wer zu einem Gastmahl geladen wurde, konnte hingehen und seine Waffen vor der Halle bedenkenlos ablegen, selbst wenn es die Halle seines Todfeindes war. Denn dem Gast, den man an seine Tafel lud, konnte man kein Haar krümmen. Im Gegenteil, man musste ihn notfalls mit bloßen Händen gegen alle Ungeheuer der Unterwelt verteidigen. So lauteten die Regeln bei Slawen und auch bei Sachsen, und sie waren nicht zuletzt deshalb unantastbar, weil die Welt ohne sie einfach nicht
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