Das Haupt der Welt: Historischer Roman (German Edition)
funktionieren konnte. Feinde sich etwa niemals zusammenfinden konnten, um einen Frieden auszuhandeln. Misstrauische Konkurrenten nie ihre Söhne und Töchter miteinander verheiraten konnten, um ihre Kräfte in Zukunft zu vereinen. Der reumütige Abtrünnige nie zu seinem Fürsten zurückkehren konnte, um seine Vergebung zu erflehen. Und so weiter.
Semela hatte die Ellbogen auf den Tisch gestützt, den Kopf wie vor Gram gebeugt, und zerzauste sich den Blondschopf. »Oh, mein Gott …«, murmelte er. »Das kann einfach nicht wahr sein.«
»Es ist wahr«, versicherte Dervan, der sich wieder gefasst hatte. »Alle. Sie sind alle tot.«
»Mein Neffe auch?«, fragte Tugomir.
»Nein. Er hatte seinen Vetter Vaclavic geschickt.«
Der Sohn seines Onkels Slawomir, erinnerte Tugomir sich. Mit einem Mal fröstelte ihn. »Vaclavic ›den Furchtlosen‹ nannten sie ihn«, murmelte er.
Dervan nickte. »Wenn du mich fragst, ein versoffener Draufgänger, aber ein verwegener Kämpfer. Er … endete mit aufgeschlitztem Bauch. Das letzte Mal, als ich ihn sah, versuchte er, seine Eingeweide zurückzustopfen, wohin sie gehörten …«
»Das heißt, du warst dabei?«, fragte Tugomir.
Der junge Mann nickte.
»Hattest du keine Angst, dass Gero dich sieht und zurückfordert?«
»Ich hab mir fast in die Hosen gepisst«, bekannte Dervan. »Aber Fürst Miliduch hat mir befohlen, ihn zu begleiten, weil er Geros Übersetzern nicht traute. Was blieb mir da übrig? Ich bin schließlich nur ein geduldeter Fremder bei den Marzanen. Also hab ich darauf gehofft, dass Gero seine Sklaven zu gering schätzt, um sich ihre Gesichter zu merken, und so war’s auch. Er hat mich nicht erkannt und nicht beachtet.«
Es war ja auch fast drei Jahre her, dass Dervan von hier geflohen war, und aus dem zwölfjährigen Bübchen war ein junger Mann geworden, der sogar schon einen spärlichen Schnurrbart vorzuweisen hatte.
»Die Burg von Meißen ist eine starke Festung«, erzählte er weiter. »Die Palisade ist so hoch, dass man meint, sie ragt bis zu den Wolken auf, und sie haben von uns abgeguckt, wie man eine richtige Wallanlage baut. Alle hatten ein mulmiges Gefühl, als das Tor sich hinter den letzten Ankömmlingen schloss, aber, wie gesagt, es war ein Gastmahl. Gero und seine Frau begrüßten die Fürsten in der Halle. Ich bin fast verrückt geworden vor Angst, als ich ihn sah, aber wir saßen weit unten an der Tafel, weil die Marzanen kein mächtiges Volk sind. Visan, der Bruder des Fürsten der Obodriten, und der Fürst der Redarier wurden an der hohen Tafel geehrt. Geros Kommandanten mischten sich unter die slawischen Gäste an den Tischen. Dann wurden ganze Ochsen am Spieß und so weiter aufgetragen. Und Wein. Kein Met, Wein. Ihr könnt euch einfach nicht vorstellen, wie schnell alle besoffen waren. Es wurde laut und ziemlich wild. Geros Frau war längst verschwunden, und die Männer machten sich über seine Sklavinnen her. Ich fand es seltsam, dass nur Sklavinnen die Speisen und Krüge auftrugen, und alle waren irgendwie zu hübsch und hatten zu wenig an. Und ich fragte Fürst Miliduch, warum es wohl nur die slawischen Gäste waren, die so heillos besoffen waren. Doch er war selbst schon zu betrunken, um misstrauisch zu werden. Ich war auch voll, aber nicht so wie die anderen, denk ich. Als die Ersten mit den Köpfen auf der Tafel eingeschlafen waren, standen Geros Männer von der Tafel auf. Alle gleichzeitig, wie auf ein geheimes Zeichen. Plötzlich wurde es totenstill in der Halle. Und alle Sklavinnen waren mit einem Mal verschwunden. Dann zog Gero sein Schwert, zerrte Prinz Visan auf die Füße, verfluchte ihn und alle Obodriten und schlug ihm den Kopf ab. Diejenigen von uns, die noch bei Sinnen waren, versuchten aufzuspringen und zu kämpfen, aber es war … hoffnungslos. Geros Männer gingen durch die Reihen und machten einfach alle nieder, genau wie … genau wie damals.« Er weinte wieder, still jetzt, aber verstört wie der kleine Junge, der die Ermordung seiner Eltern mit angesehen hatte.
Semela hatte die Hand seiner Frau ergriffen und hielt sie zwischen seinen beiden. Es war eine Weile still, ehe er fragte: »Wie bist du entkommen?«
Dervan verzog den Mund. »Wie ein richtiger Held: Ich bin unter den Tischen entlanggekrochen, bis ich fast an der Tür der Halle war. Dann bin ich aufgesprungen und gerannt. Raus in den Hof, auf den Wehrgang. Zwei sind mir gefolgt. Ich hatte zum Glück einen guten Vorsprung, aber einer schoss auf mich,
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