Das Haupt der Welt: Historischer Roman (German Edition)
getauft sein, aber du bist so gerissen wie alle Priester. Und eure Gedanken sind so verschlungen und undurchschaubar wie eure Tätowierungen. Das kann ich nicht ausstehen. Also sag mir, warum du hier bist, und dann entscheide ich, ob ich dich an meiner Tafel bewirte oder fürs Erste an einen Pfahl im Tempelhain ketten lasse.«
»Die Pfähle im Tempelhain sind derzeit alle besetzt, fürchte ich«, erwiderte Tugomir und stand auf.
»Wo willst du hin?«, fragte Ratibor irritiert.
»In die hübsche Kirche, die sich hinter deiner Halle versteckt. Wenn du gestattest.«
Ratibor erteilte seine Erlaubnis mit einem ungeduldigen Wink. »Ich hoffe, du findest noch jemanden, der dir die Messe liest. Einer der beiden Missionare, die hier vorgestern die Köpfe verloren haben – unter anderem –, war mein Kaplan.«
»Ich wollte mir deine Kirche vor allem anschauen. Falls du mich heimkehren lässt, gedenke ich, selbst eine zu bauen.«
»Spar dir die Mühe. Ich lasse dich nicht heimkehren.«
»Na schön. In dem Fall erfülle mir einen letzten Wunsch.«
»Was willst du?« Es klang mürrisch. Und angetrunken.
»Einmal das Meer sehen, bevor ich sterbe.«
Es war noch fast dunkel, als sie aufbrachen, und sie ritten allein. Ratibor übernahm die Führung, und sie folgten einem breiten, offenbar viel benutzten Pfad in nördlicher Richtung.
Tugomir hatte eine grässliche Nacht hinter sich. Er hatte auf einem Felllager an der Südwand der Halle gelegen, ein gutes Stück von Ratibors Kriegern entfernt, aber nicht weit genug, um ihrem Getuschel und den feindseligen Blicken zu entrinnen, und es war so mancher darunter, dem er zutraute, dass er ihm im Schlaf den Schädel einschlagen würde – ganz gleich, was der Fürst der Obodriten befohlen haben mochte.
Ein paarmal war er trotzdem eingeschlummert und hatte von seiner Frau geträumt. Er sah, wie sie sich vom Fieber gepeinigt auf ihrem Bett hin und her warf. Im nächsten Traum saß sie auf dem sandigen Fußboden in einer Lache von Blut und beweinte ihr verlorenes Kind. Immer waren es Schreckensbilder, die er sah, immer war sie allein in ihrer Not, und wenn er dann aus dem Schlaf schreckte, plagte ihn sein Gewissen, dass er sie schutzlos auf der Brandenburg zurückgelassen und sich hier in Gefahr begeben hatte. Seine Gründe waren ihm bei seinem Aufbruch gut und wichtig erschienen, aber im Dunkel der Nacht kamen ihm Zweifel, wie weise es gewesen war, sich in die Hände seines Todfeindes zu begeben. Und wenn es schiefging, würde nicht nur er den Preis bezahlen müssen, sondern seine Frau und sein Kind ebenso.
Er war erleichtert gewesen, als Ratibor ihm einen Diener schickte, der sagte, es sei Zeit zum Aufbruch.
Nach vielleicht einer halben Meile blieben die Bäume zurück. Der Pfad wurde sandig, und links und rechts erstreckte sich Gras, wie Tugomir es nie zuvor gesehen hatte, lang und struppig zugleich. Er hörte ein rhythmisches Rauschen, das er nur aus den Beschreibungen der Lieder kannte: die Brandung. Die kühle Morgenluft war von einem würzigen Geruch erfüllt, salzig und feucht.
Dann dünnte auch das Gras aus und verschwand. Zu beiden Seiten erstreckte sich ein breiter Streifen Sand und verschmolz mit dem Zwielicht, und genau vor ihnen endete die Welt, wie Tugomir sie kannte.
Er zügelte seinen herrlichen langmähnigen Schimmel, der nervös schnaubte und kehrtmachen wollte, denn ihm war das Meer genauso fremd wie Tugomir. Der jedoch verspürte keine Furcht. Vollkommen gebannt blickte er auf diese graue Fläche, die sich wie eine riesige Wolldecke vor ihm erstreckte und doch immerzu in Bewegung war.
»Kaum Wind«, bemerkte Ratibor. »Keine nennenswerten Wellen.« Es klang fast, als entschuldige er sich.
Tugomir hatte keine Ahnung, wie »nennenswerte« Wellen aussehen mochten. Fasziniert betrachtete er das heranrollende Wasser, das sich in breiten Zungen auf den Strand ergoss und sogleich wieder zurückglitt.
Er stieg vom Pferd, streifte die Schuhe ab und trat näher ans Wasser. Heller Schaum krönte diese Wasserzungen in dem Moment, bevor sie sich auf den Strand warfen, und löste sich dort zischelnd in Luft auf. Tugomir spürte das Herz bis in die Kehle, als er einen weiteren Schritt nach vorn wagte. Der nasse Sand klebte unter seinen Fußsohlen, und dann kam eine der zischelnden Zungen aus dem Meer und leckte ihm über die Füße. Das Wasser war kühl und schien auf der Haut zu prickeln. Es war ein himmlisches Gefühl.
Es wurde heller. Tugomir blickte aufs Meer.
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