Das Haupt der Welt: Historischer Roman (German Edition)
Sie befanden sich an einer Bucht, die nicht breiter als eine Meile sein konnte, und genau vor ihnen erhob sich eine Insel.
»Kannst du schwimmen?«
Tugomir wandte den Kopf und sah Ratibor einen Schritt zu seiner Rechten stehen. »Natürlich. Die Brandenburg liegt auf einer Insel.«
Der Obodritenfürst nickte und wies nach links. »Hast du genug Mut, in ein Boot mit mir zu steigen? Dann fahren wir ein Stück hinaus, und du kannst das Meer in seiner ganzen entsetzlichen Unendlichkeit sehen.«
Tugomir entdeckte ein kleines Fischerboot auf dem Strand. »Entsetzlich?«
»Es ist nicht immer so zahm wie heute. Jahr für Jahr fordert es seinen Tribut an Fischern und Seeleuten. Viele Menschen hier hassen das Meer, vor allem die Frauen. Und alle, die es kennen, fürchten es. Ich auch.«
»Dann lass uns hinausfahren, um unserer Furcht die Stirn zu bieten, du der deinen und ich der meinen.«
Gemeinsam schoben sie das Bötchen ins Wasser und sprangen hinein. Die Sterne waren verblasst, und das Perlgrau der Morgendämmerung nahm eine zarte Rosafärbung an. Das Licht reichte Ratibor aus, um das kleine Segel zu setzen. Für Tugomirs ungeschultes Auge schien er ein geübter Seemann zu sein, und bald glitt die Nussschale in nordwestlicher Richtung übers Meer. Sie umrundeten die vorgelagerte Insel, und wie Ratibor versprochen hatte, eröffnete sich ihnen ein Ausblick von solcher Weite, wie Tugomir ihn sich nie hätte vorstellen können. Er kniete im Bug, die Hände links und rechts um die Bordwand gelegt, und sah zu, wie die endlose See sich allmählich veränderte. Die Schwärze ging über in Bleigrau, während der bedeckte Himmel sich blutrot färbte.
Er wandte den Blick nach Osten. Wie eine Sichel aus geschmolzenem Kupfer stieg die Sonne aus dem Meer auf.
»Und werde ich das Ufer wiedersehen, Fürst Ratibor?«, fragte er, ohne sich zu ihm umzuwenden. »Oder hast du mich hierhergebracht, damit das Schönste, was die Welt zu bieten hat, das letzte ist, was ich sehe?«
»Das ist kein so schlechtes Ende, oder?«
»Nein.«
Ratibors linke Hand legte sich auf seine Stirn – beinah sanft –, und dann spürte Tugomir eine kalte Klinge an der Kehle. Er sah weiter zur aufgehenden Sonne und dachte: Ich sterbe wie Anno .
»Ich tu dir einen Gefallen, Tugomir, glaub mir. Wenn ich dich lebend heimbrächte, würden die Priester über dein Ende bestimmen, und du kannst wetten, dass sie dich brennen lassen wollen, so wie ihr Nakon habt brennen lassen.«
»Und wie kommt es, dass du mir einen Gefallen tust?«
»Keine Ahnung«, bekannte der Obodritenfürst, und es klang ratlos. »Du bist überhaupt nicht so, wie ich dachte. Einen Hevellerfürsten hatte ich mir anders vorgestellt. Es ist … nicht so leicht, dich zu hassen, wie ich angenommen hätte. Vielleicht, weil du und ich im selben Boot sitzen …« Er geriet einen Moment aus dem Konzept, weil sie ja tatsächlich zusammen in einem Boot saßen, und begann von Neuem: »Obodriten haben Heveller abgeschlachtet und umgekehrt, solange irgendwer zurückdenken kann, und dir die Kehle durchzuschneiden wird mir nicht schwerer fallen, als ein Blatt vom Baum zu pflücken. Aber es kommt mir so … unsinnig vor. Weil du und ich mehr gemeinsam haben als je einer dieser machthungrigen und verbohrten Priester mit mir gemeinsam haben wird, die dein Leben fordern.«
Tugomir hatte ihm zugehört, ohne sich zu rühren. »Und was glaubst du, Fürst Ratibor, wie lange deine Priester dich leben lassen, wenn du erblindest?«, fragte er.
Bei dem Wort zuckte Ratibor so heftig zusammen, dass er Tugomir die Haut einritzte. »Woher … Wie kommst du auf den Gedanken …«
Tugomir spürte Blut seinen Hals hinabrinnen, aber nur ein wenig. »Du sitzt bei Sonnenschein in der dämmrigen Halle. Und es ist sicher auch kein Zufall, dass wir bei Tagesanbruch hergekommen sind. Du meidest das Licht, weil es dir Ungemach verursacht, und deswegen habe ich deine Augen noch nicht richtig sehen können, aber ich nehme an, wenigstens eines von beiden ist von einem grauen Schleier bedeckt.«
Ratibor ließ einen langen Atem entweichen. »Das rechte«, antwortete er. »Mit dem rechten Auge sehe ich nur noch undeutlich, so wie wenn man hinter einem Wasserfall steht und hindurchschaut. Aber ich glaube, beim linken fängt es auch an.« Er sprach leise, doch Tugomir hörte seine Verzweiflung. »Woher wusstest du’s? Hat Draschko einen Verdacht geäußert? Ich glaubte, noch hätte es niemand bemerkt.« Endlich nahm er das
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