Das Haupt der Welt: Historischer Roman (German Edition)
bist du zurück aus der Gefangenschaft?«, fragte der Obodritenfürst schließlich.
»Seit einem Vierteljahr.«
»Und die Sachsen? Wie … sind sie?«
»Alle unterschiedlich. Genau wie Slawen«, antwortete Tugomir knapp, in der Hoffnung, das Thema damit zu beschließen.
Aber Ratibor ließ sich von seinem abweisenden Tonfall nicht schrecken. »Draschko hat etwas von ziemlich grässlichen Brandnarben erzählt.«
Tugomir seufzte leise und nickte. »Gero.«
»Oh Gott. Dieser verfluchte Hurensohn.« Er fuhr sich mit beiden Händen durch den schulterlangen Blondschopf. »Ich meine, wir wussten schon länger, dass er ein Ungeheuer ist und vermutlich den Teufel im Leib hat und am liebsten Slawenblut zum Frühstück säuft, aber dieses blutige Gastmahl …« Er schüttelte den Kopf. » Niemals hätte ich für möglich gehalten, dass er so etwas tut.«
»Du hast einen Bruder verloren?«
»Visan«, stimmte Ratibor zu. »Er war der letzte, den ich noch hatte – jetzt sind alle Brüder aufgebraucht. Sag, ist es wirklich wahr, dass dein Weib Geros Tochter ist?«
»Draschko hatte eine Menge zu erzählen, will mir scheinen.«
Tugomir hatte gestern Abend nicht am Mahl in Ratibors Halle teilgenommen, sondern mit Semela, Dervan und seinen übrigen Daleminzern in der Kirche gegessen. Sie alle wussten, was es bedeutete, dass Ratibor ihn nicht an seine Tafel gebeten hatte, und Semela hatte Tugomir bittere Vorwürfe gemacht, dass er sich hier ohne Not in die Hand seiner Feinde begeben hatte. Tugomir war das karge Nachtmahl verdammt lang geworden.
»Oh, Draschko hat immer und zu allen Dingen eine Menge zu sagen«, höhnte Ratibor.
»Gero ist mein Todfeind«, stellte Tugomir klar. »Keinen von euch Obodriten habe ich je so verabscheut wie ihn.«
»Warum hast du dann seine Tochter geheiratet?«
»Das geht dich nichts an.«
Ratibor richtete sich verdattert auf, aber dann nickte er. »Nein, das ist wahr. Also sag mir, Fürst Tugomir: Wie bringst du die Heveller dazu, dir zu folgen, obwohl du den christlichen Gott angenommen und eine sächsische Frau geheiratet hast?«
Tugomir hob die Schultern. »Wie ich dir gestern bereits sagte, hatte ich gehofft, ich könnte diesbezüglich etwas von euch Obodriten lernen. Heute mögen die Heveller mir folgen, weil sie glauben, dass ich das Wohlwollen der alten Götter besitze. Das werden sie so lange glauben, wie meine Herrschaft erfolgreich ist. Aber bei der nächsten Hungersnot oder wenn ich eine Schlacht verliere …« Er ließ den Satz unvollendet.
»Dann ergeht es dir genau wie mir«, bekannte Ratibor und schnitt sich ein Stück von dem saftigen Schinken ab. »Fürstentreue gilt bei uns Obodriten als große Tugend, und die Menschen waren meinem Vater sehr ergeben. Nakon war eigentlich der Prinz, den sie als Nachfolger wollten, und als er … als ihr ihn verbrannt habt, war die Trauer groß. Doch mit der Zeit kamen die Obodriten zu dem Schluss, dass ich vielleicht doch nicht ganz unbrauchbar bin, und sie folgen mir. Sie folgen mir, weil ich die Schlachten gewinne, in die ich sie führe. Jetzt sogar gegen Gero.« Sein Lächeln war spöttisch, aber das Leuchten in seinem gesunden Auge verriet den Stolz auf diesen Sieg. »Doch sollte mein Kriegsglück mich verlassen, wird mein Fürstenthron wackeln. Viele Obodriten sind Christen geworden, aber die Mehrheit folgt dem alten Glauben. Und ich finde einfach keinen Weg, die Macht der Priester zu brechen. Sie verwahren das Silber im Tempel. Mein Silber. Sie besitzen die Orakelgewalt und in vielen Fällen auch die Gerichtsgewalt. Du hast ja gesehen, was sie mit Vater Warin und seinem Mitbruder gemacht haben.«
»Was war ihr Vergehen?«
»Sie haben Wasser aus der Tempelquelle geholt, um es zu weihen. Das war unklug, gewiss. Aber streng genommen war es ihnen nur untersagt, den Tempel selbst zu betreten, und das haben sie nicht. Doch Mirogod, der Hohepriester, klagte sie wegen Frevels und Tempelschändung an, und die Mehrheit der Priester befand sie für schuldig. Da konnte ich nichts machen. Natürlich haben sie das nur gewagt, weil Draschko nicht hier war. Draschko mag ein alter Griesgram und ein Waschweib sein, aber er hält mir immer den Rücken frei, weil er eben mein Onkel ist, und er ist mächtig.« Er zuckte die Achseln. Es wirkte gleichgültig, aber seine Miene war angespannt. »Wenn ich die Priester herausfordere und ihre Macht in Frage stelle, riskiere ich einen Krieg, in welchem Obodriten Obodriten erschlagen. Und das will ich
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