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Das Haupt der Welt: Historischer Roman (German Edition)

Das Haupt der Welt: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Haupt der Welt: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Gablé
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lehmigen, ewig feuchten Boden. Die fensterlosen Wände bestanden aus nachlässig gezimmerten Brettern, durch die es fürchterlich zog. Ein Strohsack, eine Decke und ein Holzklotz, der als Sitzgelegenheit diente, bildeten das gesamte Mobiliar. Aber immerhin war das Strohdach halbwegs neu und dicht, wie er während der häufigen Regengüsse der vergangenen Wochen gelernt hatte, und nach dem schier unerträglichen Lagerleben wusste er es zu schätzen, allein sein zu können.
    Er setzte sich vor der Tür ins hohe Gras, lehnte den Rücken an die Bretterwand und entdeckte in der ungemähten Wiese ein Kamillefeld. Und dort drüben war noch eines. Vermutlich wussten sogar sächsische Hausfrauen, dass Kamille Zahnweh und Bauchgrimmen linderte, aber er zweifelte, dass sie auch wussten, wie man Nierenkoliken damit kurierte. Und da hinten, war das etwa Kümmel? Tugomir stand auf, nahm die Wiese zum ersten Mal systematisch in Augenschein und entdeckte Quecke und Erdrauch und am Ufer des Teichs Brunnenkresse, ohne sich auch nur einen Schritt bewegt zu haben. Seltsam, dass sie ihm bisher noch nie aufgefallen waren. Er überlegte, ob er sie sammeln und trocknen sollte. Nicht, dass es ihn sonderlich dazu drängte, die verfluchten Sachsen von ihren Leiden zu befreien, aber es wäre eine Beschäftigung. Etwas, um der quälenden Untätigkeit ein Ende zu machen und ihn von seinen sinnlosen Grübeleien abzulenken. Immer noch unschlüssig schlenderte er zum Fischteich hinüber. Erst als er das Stück Brot entdeckte, das Semela dort für ihn zurückgelassen hatte, merkte er, wie hungrig er war.
    »Tugomir? Was in aller Welt tust du da?«, fragte Dragomira verwundert.
    »Wonach sieht es aus?«, konterte er, ohne aufzuschauen.
    Er saß vor seiner Hütte, so wie meistens, wenn sie sich im Laufe der vergangenen Wochen zu ihm gewagt hatte. Doch heute starrte er nicht mit finsterer Miene vor sich hin, sondern hatte einen kleinen Hügel Kamillestängel im Gras aufgetürmt und war dabei, die Blüten abzuernten, die er auf ein ausgebreitetes Tuch legte.
    Dragomira ließ sich von dem kühlen Empfang nicht abschrecken. Ein wenig schwerfällig setzte sie sich ihm gegenüber ins Gras, lauschte einen Moment dem tröstlichen Gesang der Grillen und wies dann auf die Blüten. »Die helfen nicht zufällig auch gegen geschwollene Glieder? Schau dir meine Füße an, Bruder. Abscheulich.«
    Er schüttelte den Kopf. »Bereite einen Tee aus Brennnesseln und Birkenblättern. Oder lass ihn dir bereiten. Ich wette, die Geliebte des Prinzen hat ein Dutzend Mägde, die ihr das Leben angenehm machen.«
    Dragomira lehnte den Rücken an die Bretterwand und streckte die Beine aus. »Was mir das Leben erleichtern würde, wäre, wenn du endlich aufhörtest, mir Dinge vorzuwerfen, über die ich keine Macht habe.«
    Tugomir arbeitete noch einen Moment schweigend weiter. Sie hielt den Blick auf seine schmalen Hände gerichtet und beobachtete die Punktlinien, die sich immer zu schlängeln schienen wie kleine Wellen, wenn seine Finger sich bewegten. Es war eine Illusion, die niemals aufhörte, sie zu faszinieren. Doch nun hielten seine Hände unvermittelt inne, und er sah ihr endlich ins Gesicht. »Du hast recht.«
    Dragomira fiel aus allen Wolken. Niemals hätte sie erwartet, dieses Eingeständnis zu hören. Nicht so leicht jedenfalls. »Tatsächlich?«, fragte sie mit einem kleinen Lächeln.
    »Ich musste in den letzten Tagen oft an Dobromir denken.«
    »Den alten Kräutermeister?«
    »Er war ein bisschen mehr als das. Auf jeden Fall war er mein Lehrmeister, und es hat mich erschreckt, als mir aufging, wie lange ich nicht an ihn gedacht habe.«
    »Er ist schon seit über einem Jahr tot«, gab sie achselzuckend zurück. »Und so vieles ist geschehen.«
    »Mag sein. Aber viele Dinge, die er mich gelehrt hat, hätten mir in den vergangenen Monaten nützlich sein können. Nur war ich … Ach, ich weiß nicht.« Er winkte verdrossen ab.
    »Was?«, hakte Dragomira nach. »So damit beschäftigt, düstere Dinge zu denken, dass in deinem Herzen kein Platz für Dobromirs Weisheit war? Das ist kein Wunder. Du hattest gute Gründe. Und hast sie noch.«
    »Genau wie du. Aber ich war derjenige, der sich hat gehenlassen. Du hast dich dem Unvermeidlichen gestellt. Furchtloser als ich, so beschämend es auch sein mag, das einzugestehen.«
    »Oh, Tugomir.« Dragomira musste lachen. »Ich mag viele Dinge sein, aber ›furchtlos‹ gehört nicht dazu. Und ich frage mich, ob du außer Kamille auf

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