Das Haupt der Welt: Historischer Roman (German Edition)
richtete sich auf, unterdrückte ein Stöhnen und presste die Handballen gegen die hämmernden Schläfen.
»Nein? Wie würdest du es nennen, wenn ein Kerl schlafend im Gras liegt und flennt?«
Hastig fuhr Tugomir sich mit der Linken über beide Wangen und war erschrocken, dort Nässe zu spüren. »Verschwinde, Semela«, knurrte er. »Lass mich ausnahmsweise einmal zufrieden.«
Er blickte sich um, immer noch erschüttert und desorientiert. Es war gelegentlich schon vorgekommen, dass die Vila zu ihm kam, um ihm Bilder im Spiegel zu zeigen, und man konnte nie sagen, wie viel Zeit vergangen war, wenn man zurückkehrte. Aber es war immer noch Nachmittag, stellte er fest. Er hoffte, es war noch derselbe, aber er nahm es an, denn die Schatten waren deutlich länger als vorher.
Semela streckte ihm ein großes Stück Brot entgegen. »Hier. Ich dachte mir, du musst hungrig sein. Du hast den ganzen Tag noch nichts gegessen.«
»Danke.« Tugomir nahm die großzügige Gabe. Das Brot war unbestreitbar das Beste an den Sachsen: Es waren keine dünnen Fladen, wie sie bei den Hevellern üblich waren, sondern längliche Laibe, die länger frisch blieben und einen beinah würzigen Geschmack hatten. Aber Tugomir verspürte keinen Appetit.
»Komm schon, Tugomir, iss«, drängte der Junge, und es war drollig, diesen kleinen Kerl so ernst und besorgt zu sehen. »Was ist denn nur mit dir? Bist du krank?«
Der Hevellerprinz schüttelte den Kopf. »Es war eine Vila.«
»Oh …« Semela klang beeindruckt und beklommen zugleich. Er wusste natürlich, dass die schönen Wasserelfen sich nur wenigen Auserwählten zeigten – vorzugsweise jungen Helden von ansehnlicher Gestalt –, aber ebenso wusste er, dass ihre Gunst ein zweifelhafter Segen war. Manchmal boten sie Schutz oder halfen mit ihren Zauberkünsten, aber genauso konnte es passieren, dass sie ihrem Erwählten den Kopf verdrehten und den Verstand raubten, sodass er in ihrem Fluss oder See oder wo immer sie lauerten, ertrank. Manche Vily, hatte Semela gehört, verwandelten ihre Opfer auch in Bäume. »Und was hat sie zu dir gesagt?«
»Lauter abscheuliche Dinge.«
»Dann reiß ihr das nächste Mal eins ihrer goldenen Haare aus, wenn sie dich beehrt«, schlug der pfiffige Knabe vor.
Tugomir musste grinsen. Die Kraft der Vily steckte in ihren Haaren. Verloren sie auch nur ein einziges, starben sie. »Ich wette, sie kennt Mittel und Wege, mich zu hindern. Außerdem ist es nützlich, sie zu haben. Nicht gerade angenehm, aber nützlich.«
Semela zuckte die Achseln. »Wie du willst. Hast du gehört, dass der Hof nächsten Monat nach Quedlinburg geht?«
»Nein.« Tugomir war immer noch in seiner Vision gefangen. Er schöpfte mit beiden Händen Wasser aus dem Teich und benetzte sich das Gesicht damit. »Wo ist das?«
Semela wies vage nach Südwesten. »Zwei stramme Tagesmärsche von hier.«
Weg von der Elbe, fuhr es Tugomir durch den Sinn. Tiefer ins Herz des Sachsenlandes und immer weiter fort von zu Hause. »Du kennst dich aus, hm?«
»Mein Vater war Händler. Er hat den Sachsen alles mögliche Zeug gebracht. Vor allem Fisch. Du glaubst einfach nicht, wie viel Fisch die brauchen, denn ihr komischer Gott verbietet ihnen andauernd, Fleisch zu essen. Meist ist er nur bis hier gezogen. Mein Vater, meine ich, nicht der Gott der Sachsen. In Magdeburg hat er oft schon alles verkaufen können, aber letzten Sommer ging hier ein schlimmes Fieber um, und da ist er lieber nach Halberstadt, wo der Hohepriester … der Bischof wohnt, und weiter nach Quedlinburg. Das liegt in der Nähe. Auf einem Berg. Na ja, Hügel.«
»Du hast es gesehen?«
Semela nickte, brach sich ein Stückchen von dem Brot ab, das Tugomir vergessen in Händen hielt, und steckte es in den Mund. »Vater hat mich mitgenommen letzten Sommer, weil ich alt genug war, um mich nützlich zu machen. Es war … großartig«, schloss er mit einem Lächeln, aber gleich darauf legte sich ein Schatten auf seine Züge. Semela hatte seinen Vater sehr geliebt, wusste Tugomir.
»Und was tut der Hof also nächsten Monat in Quedlinburg?«, fragte er, obwohl es ihn eigentlich nicht kümmerte.
»Sie machen einen Hoftag.«
»Was ist das?«
»Keine Ahnung«, gestand der Junge. »Das heißt, ich hab gehört, wie Ekkard zu einer der Küchenmägde gesagt hat, es werde den König ein Vermögen kosten, all seine Herzöge und Grafen und Bischöfe und Äbte zu bewirten.« Ekkard war der Koch, der regelmäßig im Zorn über Semela kam. »Wenn
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