Das Haupt der Welt: Historischer Roman (German Edition)
Umgebung stießen sie auf einige daleminzische Dörfer. Die Menschen dort fristeten ein mühseliges und kärgliches Dasein wie alle slawischen Völker unter Geros Herrschaft, die sie noch mehr zu spüren bekamen als ihre Nachbarn, weil Geros Burg Meißen nur etwa zwanzig Meilen entfernt lag. Weder Semela noch irgendein anderer von Tugomirs Daleminzern wollte in der alten Heimat bleiben, aber es war ihnen ein Trost, sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, dass ihr Volk nicht gänzlich ausgelöscht worden war, und vor allem ihren heiligen See Zlomizi wiederzusehen.
Tugomir war selber nicht besonders erpicht darauf gewesen, länger als nötig in Geros unmittelbarer Reichweite zu verweilen. Von Jahna aus waren sie nach Westen geritten, hatten die Elbe überquert und in Merseburg die Pelze verkauft, die sie im Laufe eines arbeitsreichen Spätsommers erjagt und gegerbt hatten. Wie sich zeigte, hatte der Aufwand sich gelohnt: Sie bekamen gutes Silber für ihre Pelze, denn die Sachsen froren bereits, und Tugomir kaufte dafür weitere Lebensmittelvorräte, hauptsächlich Getreide, Erbsen und Linsen.
Tuglo hatte bemängelt, dass ein wahrer slawischer Fürst sich das Korn seiner Nachbarn mit dem Schwert holen würde, statt wie ein Krämer durchs Land zu ziehen, aber die übrigen Heveller waren Tugomir dankbar für sein unfürstliches kaufmännisches Geschick, denn sie wussten, es hatte sie vor einem Hungerwinter bewahrt.
Die Tür in der Stirnwand der Halle wurde geöffnet, und Dragowit, der draußen Wache stand, kam im Laufschritt herein. »Mein Fürst, du wirst es nicht glauben … Ratibor, der Fürst der Obodriten, steht mit einem Dutzend Männern am Tor der Vorburg und erbittet höflich Einlass.«
Die Krieger und Priester zu beiden Seiten des Fürstenthrons tauschten verwunderte Blicke.
»Nanu? Sind Ratibor über den Winter alle Krieger verhungert, oder warum kommt er mit so wenigen?«, fragte Nekras.
»Und bittet um Einlass«, spöttelte sein Zwillingsbruder Dragan. »So kennen wir die Obodriten ja gar nicht …«
Es gab Gelächter.
»Bring ihn her, Dragowit«, bat Tugomir. »Wenn Priester in seinem Gefolge sind oder Krieger, die dir ehrwürdig erscheinen, führ auch sie in die Halle. Den Rest bringt ihr in der Vorburg unter und sorgt dafür, dass sie beköstigt werden.«
Dragowit nickte nur und wandte sich ab, um Tugomirs Anweisungen zu befolgen – ohne sie anzuzweifeln. Das kam Tugomir immer noch bemerkenswert vor. Genau wie alle anderen Krieger, die einst zu Boliluts Kumpanen gehört hatten, war Dragowit ihm anfangs mit Geringschätzung begegnet. Aber seit dem Gottesurteil, das Bogdan – ihren Kameraden – das Leben gekostet hatte, waren sie ihrem Fürsten unerschütterlich ergeben.
Tuglo war erwartungsgemäß derjenige, der über dessen Befehle missfällig die Stirn runzelte. Ehe er einen Protest vorbringen konnte, sagte Tugomir: »Fürst Ratibor hat mir Höflichkeit erwiesen, als ich ihn letzten Sommer aufgesucht habe. Hättest du den Mut gehabt, mich zu begleiten, wüsstest du das. Also sei wenigstens so gut und zeig ihm, dass auch Heveller wissen, was Höflichkeit ist.«
Tuglo zog den Kopf zwischen die Schultern, die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst, die Ohren feuerrot. Offenbar gefiel ihm nicht, wie seine Weigerung, den Fürsten auf die Mecklenburg zu begleiten, ausgelegt wurde.
Tugomir beachtete ihn nicht weiter und bat die Krieger auf der rechten Bank, ein wenig zusammenzurücken. Sie taten es bereitwillig. Er war verblüfft, dass keiner aufstand und demonstrativ die Halle verließ.
Dennoch war das Schweigen frostig, das den Fürsten der Obodriten empfing, als Dragowit ihn hereinführte.
Ratibor blieb einen Augenblick an der Tür stehen und schaute sich um, erwiderte den einen oder anderen feindseligen Blick mit einem verwegenen Grinsen und kam dann mit entschlossenen Schritten an die lange Tafel vor dem Feuer. »Fürst Tugomir. Sei gegrüßt. Der Frühling ist gekommen, und auf einmal überkam mich eine sonderbare Sehnsucht, dir einen Besuch abzustatten.«
Tugomir fand es unmöglich, das unbekümmerte Grinsen nicht zu erwidern. Er wies auf die Bank neben sich. »Sei willkommen auf der Brandenburg, Fürst Ratibor. Du hättest keinen besseren Tag für deinen Besuch wählen können. Wir feiern die Geburt meines Sohnes. Nimm Platz und iss und trink mit uns.«
Das ließ Ratibor sich nicht zweimal sagen. Er glitt auf die Bank, riss ein Stück vom Wildschwein, noch ehe die
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