Das Haupt der Welt: Historischer Roman (German Edition)
Beifall zollten, war nicht auszumachen.
Tugomir stand auf und sagte zu der Menge: »Mehr gibt es hier heute nicht zu sehen. Wenn ihr Fürst Ratibor Respekt erweisen wollt, zerstreut euch.«
Ungewohnt willig gingen sie auseinander, bis nur noch Semela und Ratibors Krieger auf der Wiese vor der Halle standen.
»Wenn du mir gestattest, dich zu führen, bringe ich dich in eine abgedunkelte Kammer, wo du ruhen kannst«, bot Tugomir seinem Patienten an.
»Meinetwegen«, antwortete der, stand auf und wankte einen Moment.
Tugomir packte ihn beim Arm und wartete, bis Ratibor wieder sicher stand. Dann geleitete er ihn die wenigen Schritte zu seinem eigenen Gemach, das er zähneknirschend geräumt hatte. Er selbst würde in der Halle schlafen, Alveradis und der Junge sollten bei Dragomira unterschlüpfen. Blieb zu hoffen, dass Ratibors Auge schnell heilte …
»Halt. Einen halben Schritt vor dir steht ein Bett.«
Ratibor befreite seinen Arm mit einem ungeduldigen kleinen Ruck, drehte sich um und ließ sich nieder, während seine Hände hinter ihm nach der Bettkante tasteten. »Ich stehe in deiner Schuld, Fürst Tugomir«, sagte er ächzend und streckte sich auf dem Rücken aus.
»Nein«, widersprach der. »Du hast mir bereits gegeben, was ich wollte.«
»Trotzdem …«
»Lass uns morgen darüber streiten. Du musst dich ausruhen. Versuch, die Augen so wenig wie möglich zu bewegen.«
»In Ordnung.«
Die Tür knarrte, und Tugomir wandte den Kopf.
Egvina stand auf der Schwelle, einen Tonkrug in der Linken. »Dachte ich, Fürst Ratibor vielleicht könnte noch vertragen Schluck Wein.«
Ratibor zeigte ein breites Grinsen. »Bei einem so hinreißend vorgetragenen Angebot kann ich nicht widerstehen.«
Tugomir betrachtete die Prinzessin mit leicht zur Seite geneigtem Kopf. Auch Egvina hatte in der Schar der Zuschauer gestanden, wusste er, und als sie den Blick jetzt auf den Mann richtete, der mit verbundenen Augen auf dem Bett lag, malte sich das Koboldlächeln auf ihrem Gesicht ab, das Tugomir lange vermisst hatte.
Im Vorbeigehen legte er ihr kurz die Hand auf den Arm und bemühte sich, nicht zu grinsen, als er sie ermahnte: »Vergiss nicht, dass er möglichst ruhig liegen sollte.«
Egvina von Wessex hielt den Blick auf den Wein gerichtet, den sie aus ihrem Krug in einen Becher schenkte, und antwortete: »Ich lasse mir etwas einfallen, sei unbesorgt.«
Meißen, Juni 940
»Prinz Henning!« Markgraf Gero stand von seinem Platz an der hohen Tafel auf. »Sei willkommen auf der Burg am Ende der Welt.« Ein Lächeln erschien in seinem graumelierten Bart, aber die Augen blieben kalt, ihr Blick undurchschaubar.
»Hab Dank, Gero.« Henning sah sich verstohlen um, während er näher trat. Hier war es geschehen, wusste er. Dreißig slawische Fürsten waren in dieser Halle ermordet worden. Oder dahingemetzelt , das traf es wohl besser. Ihr Blut hatte das Bodenstroh rot gefärbt, ihr Geschrei die Schwalben im Dachstuhl aufgeschreckt. Natürlich sah man nichts mehr davon. Aber die Halle des Markgrafen war so eigentümlich leer und still, dass Henning sich fragte, ob Geros Gefolge sie mied, weil sie ein verfluchter Ort war und man sich hier drinnen gruselte. Und außerdem fragte er sich, ob die Waffen, die die Wände zierten, den ermordeten Slawenfürsten gehört hatten.
»Nimm Platz.« Einladend wies Gero neben sich auf die Bank. »Und lass uns einen Becher trinken. Es kommt nicht gerade oft vor, dass alte Freunde aus der Heimat uns hier besuchen. Freiwillig, meine ich.«
Von freiwillig kann nun wirklich keine Rede sein, dachte Henning verdrossen. Er umrundete die Tafel und setzte sich zu Gero.
Der schnipste mit den Fingern. »Komm her, Bürschchen, wie immer du heißt!«
Ein magerer Sklave kam eilig aus der kleinen Kammer, die hinten rechts von der Halle abgeteilt war, und verneigte sich.
»Met für meinen Gast und für mich. Beeil dich. Und wenn du uns den Met gebracht hast, holst du den Rest vom Biberbraten.«
Der Sklave verbeugte sich nochmals und wandte sich ab.
Es musste Freitag sein, schloss Henning. Er hatte irgendwie den Überblick über die verrinnenden Tage verloren. Freitags durften anständige Christenmenschen kein Fleisch essen, sondern nur Fisch. Da der Biber indes schwimmen konnte, zählte er dazu und war ein beliebter Freitagsbraten.
Henning wartete schweigend auf den Met und beobachtete seinen Gastgeber derweil aus dem Augenwinkel. Gero war mager geworden, fand er, wirkte geradezu ausgemergelt. Das
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