Das Haupt der Welt: Historischer Roman (German Edition)
Krankenlager ihres geliebten Sohnes, und zwar Tag und Nacht.
»Und somit besteht kaum noch Hoffnung, dass Henning stirbt und uns aus dieser vertrackten Lage erlöst, vor die uns seine reumütige Rückkehr stellt«, brummte Ottos jüngster Bruder in seinen Becher.
»Brun!«, schalt die Königin kopfschüttelnd. »Wie kannst du so etwas nur sagen? Ein Gottesmann wie du?«
»Ein Gottesmann sollte vor allem immer die Wahrheit sagen«, konterte er verdrossen. »Oder zumindest so oft wie möglich. Stimmt’s nicht, Wilhelm?«
Der Zehnjährige nickte mit einem Grinsen. Doch er war nicht mit dem Herzen dabei, verzog nur für einen Lidschlag die Mundwinkel nach oben, und mit einem Mal fand Otto sich lebhaft an Tugomir erinnert.
»Was bekümmert dich, mein Junge?«, fragte der König seinen Ältesten.
Wie so häufig dachte Wilhelm einen Moment nach, ehe er antwortete. Dann sagte er: »Der Hader innerhalb der Familie. Ich verstehe, dass Ihr Prinz Henning gram seid, Vater. Das hat er verdient. Aber Großmutter ist so verzweifelt, weil das Fieber einfach nicht besser wird. Trotzdem kommt sie nicht zu Euch, und Ihr geht nicht zu ihr. Ihr betet nicht einmal zusammen. Das …« Er brach ab, als hätte ihn der Mut verlassen.
Es war ein Abend Ende Januar. Der Hoftag war längst vorüber, alle Gäste waren kurz nach dem Dreikönigsfest wieder abgereist. Die königliche Familie und ihr Haushalt hatten die Pfalz von Magdeburg wieder für sich, und heute Abend war es ungewöhnlich still in der Halle. Nur Liudolf und seine Verlobte, die kleine Ida von Schwaben, tobten am anderen Ende des Saals mit zwei Jagdhundwelpen – lautstark wie üblich. Der Wind zerrte mit eisigen Fingern an den Fensterläden, und Brun hatte die Bänke mit Wilhelms Hilfe nah ans Feuer gerückt.
»Er meint, dass du gegen Gottes Gebot verstößt, mein König«, sagte Editha ohne großen Nachdruck, den Blick ins Feuer gerichtet.
»Habt Dank, edle Königin, aber ich kann selber sagen, was ich meine«, entgegnete der Junge, und auch der scharfe Tonfall erinnerte an seinen Onkel.
»Nimm dich in Acht, Wilhelm«, warnte Otto, aber gleichzeitig dachte er: Der Junge hat völlig recht. Jeder in dieser Familie hegt irgendeinen Groll: meine Mutter gegen mich, ich gegen Henning, Brun gegen Editha, Editha gegen Wilhelm und Henning gegen jeden. Otto war nicht einmal sicher, ob seine Frau ihm die Geschichte mit ihrer Zofe verziehen hatte. Editha war überglücklich gewesen, als er unversehrt aus dem Krieg zurückgekommen war, und trotzdem. Manchmal konnte er das Gefühl nicht abschütteln, dass immer noch irgendetwas zwischen ihnen stand, vielleicht weil in Wahrheit er derjenige war, der ihr nachtrug, dass sie um Milde für dieses verräterische, durchtriebene Weib gebeten hatte.
Was ist nur los mit uns?
Brun fuhr sich kurz mit der Hand über die Stirn. »Eins steht jedenfalls fest: Wenn Henning gesund wird, dürfen wir ihn nicht mehr aus den Augen lassen. Je kürzer die Leine, an der Ihr ihn haltet, desto besser.«
Otto fiel auf, dass niemand mehr davon sprach, Henning für seine Rebellion zu bestrafen. Eberhard und Giselbert, die Anteil an seinem Verbrechen gehabt hatten, waren beide tot, und genau betrachtet hätte Henning ihr Schicksal teilen müssen, denn er hatte es ebenso auf die Krone abgesehen wie der Herzog von Franken. Aber Gott war es, der Eberhard und Giselbert gerichtet und Henning geschont hatte. Also wie hätte er – Otto – Gottes Urteil missachten und ein anderes fällen können? Natürlich gab es andere Möglichkeiten als ein Henkersschwert. Er konnte Henning in Festungshaft schicken. Je nachdem, wohin er ihn sandte und wen er zum Kerkermeister seines Bruders bestimmte, konnte das schlimmer sein als ein rasches Ende. Aber auch das war keine Lösung, musste er erkennen. Nicht weil seine Mutter wie eine Furie über ihn gekommen wäre – das schreckte ihn nicht. Doch als er seinen todkranken Bruder aufhob und aus der Kirche trug, hatte er ihm eine Antwort auf sein Gnadengesuch gegeben, ging ihm auf. Er hatte kein Wort gesagt, hatte auch nicht Hennings Hände zwischen seine genommen. Was er stattdessen getan hatte, wog schwerer als alle Worte und Gesten. Er hatte ihn aus der Kirche getragen, damit er weiterlebte. Und da er ihm das Leben geschenkt hatte, konnte er ihm die Vergebung nicht vorenthalten, die sein Bruder erfleht hatte.
»Ich bin anderer Ansicht«, antwortete er Brun. Er stützte die Hände auf die Knie, als wappne er sich für den
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