Das Haus am Abgrund
versucht, uns von hier zu verjagen, und als meine Eltern ihr nicht gehorcht haben, hat sie meinen Vater beschimpft und uns noch nicht einmal dann von ihrem vielen Geld abgegeben, als Papa seine Arbeit verloren hat und meine Mama putzen gehen musste, um uns alle zu versorgen. Dann wurde Mama krank und sie hat uns wieder nicht geholfen. Sie hat immer nur gesagt, wir sollten von hier wegziehen, dann könnten wir alles von ihr haben. Und als ... als das Schlimme passiert ist, war sie nicht da und hat mich zu sich genommen oder so. Das hast du getan, und du bist noch nicht mal meine richtige Tante!«
Eliette seufzte und schlug das Buch zu. »Liebes«, sagte sie sanft, »deine Großmutter wohnt doch in diesem winzigen Cottage, wie hätte sie dich zu sich nehmen sollen? Und ich halte es für ein Gerücht, dass sie Geld hat. Schau dir doch an, wie sie lebt.«
November erwiderte ihren Blick. »Sie hat sich nicht um mich gekümmert«, wiederholte sie.
Eliette nickte langsam. »Das konnte sie nicht. Sie ist alt und krank. Und nicht jeder kann sich um ein junges Mädchen kümmern. Das ist für eine alte Frau sicher zu viel.«
November schnaubte. »Sie ist nicht krank«, gab sie giftig zurück. »Sie ist verrückt!«
E liette machte eine heftige Handbewegung, aber ehe sie auf Novembers Ausruf etwas erwidern konnte, schepperte die Eingangstür. Sie kniff die Lippen zusammen, stand auf und ging hinaus.
November beugte sich über das Buch, in dem Eliette gelesen hatte. Eine Geschichte Cornwalls. Sie blätterte zum Inhaltsverzeichnis und suchte nach St. Irais.
Natürlich gab es auch einen Eintrag, in dem das Haus erwähnt wurde. November überflog ihn, wie immer gleichzeitig angezogen und abgestoßen von dem, was sie erfuhr. Der Verfasser konzentrierte sich auf die alten Geschichten und Sagen, die sich um Heathcote Manor rankten. St. Irais war eine blühende Gemeinde, immer schon und durch alle Wirrungen der Geschichte. Von Seuchen, Hunger und Missernten blieb dieses Dorf verschont. Die Einwohner pflegten der Familie Vandenbourgh dafür zu danken. Die Familie sei es, die ihre schützende Hand über das Dorf und seine Bewohner halte, schon seit Anbeginn. Und dann kam der Teil, den sie so widerlich und krank fand, dass sie sich jedes Mal am liebsten übergeben hätte, wenn jemand diese Geschichte erwähnte: Heathcote Vandenbourgh habe seine Seele dem Teufel verkauft, und dieser wohne nun im Haus und beschütze die Familie und das Dorf.
Nova wusste nicht, warum sie sich so sehr darüber aufregte. Das war idiotischer Aberglauben und er passte perfekt auf dieses Dorf mit seinen hinterwäldlerischen Bewohnern.
Ihre Gedanken schweiften zu ihrer Familie und dem, was sie mit dem Ort und dem Haus verband. Sie wusste gar nicht so viel darüber, wie sie sich immer selbst vorgemacht hatte. Ihr Vater als der älteste Sohn war der Erbe des Hauses und des Familien n amens. Gab es außer ihrem Zweig der Familie noch Vandenbourghs? Waren sie und die alte Frau wirklich die letzten Äste am uralten Baum ihrer Familie?
»Nova?«, hörte sie Tante Eliette rufen. »Jamie fragt, ob du jetzt schon Zeit für deine Stunde hast. Er muss heute Abend mit seinen Eltern nach Truro.«
Jamie Hewett stand neben der Eingangstür und lächelte strahlend, wie immer, wenn er sie ansah. Er war groß und breitschultrig und sah gut aus, mit seiner verwegen verstrubbelten dunkelblonden Frisur, den makellosen Zähnen und den blauen Augen. Er war zwei Jahre älter als sie und der Schwarm sämtlicher Mädchen in seiner Schule, da war November sich sicher. Sie erwiderte sein Lächeln und auch seinen Händedruck, der immer ein wenig länger dauerte als nötig. Es war keine Frage, dass Jamie sie anflirtete.
»Gehen wir rauf?« Es klang schroffer als beabsichtigt und sie entschärfte den Tonfall mit einem extra freundlichen Lächeln. Er folgte ihr die knarrende Treppe hinauf und in ihr Zimmer.
Mathe und Physik. Nicht gerade Novembers Lieblingsfächer. Aber Jamie war sehr geduldig und hatte eine gute Art, ihr beim Denken zu helfen.
Nach einer knappen Dreiviertelstunde klappte November ihr Physikbuch zu, reckte sich und gähnte. »Ich kann nicht mehr«, sagte sie. »Schluss für heute?«
Jamie schien nicht böse darüber zu sein, dass die Stunde etwas kürzer ausgefallen war. »Geht klar«, meinte er. »Übermorgen wieder um diese Zeit?«
November nickte und erwartete, dass er aufstehen und gehen w ürde. Aber Jamie blieb sitzen. Er beugte sich etwas vor, als wollte er
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