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Das Haus am Abgrund

Das Haus am Abgrund

Titel: Das Haus am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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Seit sie wieder hier in St. Irais war, trug sie nur noch diese albernen Mädchenklamotten. Warum eigentlich? Heute Morgen hatte sie vor ihrem Schrank gestanden, ihre Lieblingsjeans in der Hand, und dann hatte sie sie wieder zurückgelegt und das klein geblümte Kleid mit dem braven runden Kragen angezogen. Dabei hatte sie ihren Händen zugesehen, wie sie die Knöpfe s chlossen, und sich vollkommen abwesend gefühlt, beinahe so, als wäre jemand Fremdes in ihren Körper geschlüpft, hätte sie sanft beiseitegedrängt und die Regie übernommen.
    Sie folgte ihren Füßen die Straße hinunter. Dieses Gefühl, dass sie es nicht war, die die Entscheidungen traf, war mal stärker und mal schwächer, aber es verfolgte sie, seit ihre Eltern ... seit diesem Tag, als ...
    Die Gedanken schwappten davon. Der Wind flaute ab und November genoss die Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht.
    Nur in Momenten wie diesen, wenn die Sonne schien und das Dorf so friedlich und verschlafen vor ihr lag, wagte sie es überhaupt, an das Haus zu denken, denn es verursachte ihr Albträume, und zwar nicht im übertragenen Sinne. Wenn sie die Augen schloss, war das Haus in ihrem Kopf. Sie fand sich in seiner Halle stehend, über ihrem Kopf nichts als Dunkelheit, das Flattern von Flügeln und das Flüstern des Windes. Sie war allein, aber trotzdem atmete jemand in ihrer Nähe. Sie wusste, dass sich kein Mensch außer ihr dort aufhielt, aber da waren Schritte und Stimmen, fernes Gelächter und Musik.
    Seit dem Unfall suchten die Träume sie jede Nacht heim. Und am Tag lief sie wie im Nebel herum und musste dem Drang widerstehen, nach Hause zu laufen. Nach Hause! Sie hatte nie dort gelebt. Ihre Eltern hatten mit November und ihren Geschwistern in einem schäbigen Cottage ein Stück außerhalb von St. Irais gewohnt, und sie hatten November, als sie zehn war, in ein Internat nach Kent geschickt. Seither war sie nur in den Ferien wieder nach St. Irais gekommen – und natürlich, nachdem ... nachdem das Schreckliche geschehen war.
    Tante Eliette wollte, dass sie im Herbst wieder auf das Kent C ollege zurückkehrte, und November war ihr dankbar dafür. Hier hielt sie nichts, noch nicht mal eine Erinnerung. Sie holte den Stoff auf, den sie verpasst hatte, wobei ihr Jamie Hewett, ein älterer Junge aus dem Dorf, half, und zählte die Tage bis zum neuen Schuljahr.
    Der Junge. Nicht Jamie Hewett – der Junge aus dem Kutscherhaus, dieser seltsame, blasse Junge mit den irritierenden Augen. Wie er mit der Axt in der Hand vor ihr gestanden hatte, wäre ihr beinahe das Herz stehen geblieben.
    Warum hatte er sich bei Eliette nach Heathcote Manor erkundigt? Er hatte ihr vorgeschwindelt, es wäre für die Schule, aber sie kannte diese Art von kleinen Lügen, die man Erwachsenen servieren musste, damit sie keine unangenehmen Nachfragen stellten. Sein Interesse galt dem Haus . Und vielleicht auch ein bisschen ihr ...
    November riss ihre Gedanken mit Mühe von dem Jungen und dem Haus los. Die beiden schienen irgendwie zusammenzugehören. So, wie sie selbst und das Haus auch irgendwie zusammengehörten, auf eine seltsame, kranke, widerliche Art, die ihr Angst machte. Sie atmete tief ein und wieder aus und zwang ihre Aufmerksamkeit auf das schöne Frühlingswetter und die hübschen Farben der Blumen, die überall in den Vorgärten blühten.
    Sie ging viel zu wenig hinaus. Tante Eliette drängte sie immer, aber November saß lieber in ihrem Zimmer in dem zerschlissenen Ohrensessel und las. Einen Becher Kakao oder Tee neben sich, einen Stapel Bücher aus der Bibliothek auf dem Hocker, gegen den sie auch ihre Füße in den dicken Stricksocken stemmte. Es war schön und friedlich und niemand konnte kommen und ihr wehtun.
    » Nova Vandenbourgh«, rief Lizzie vom Dorfladen und stemmte die Hände in die Hüften. »Was für eine Ehre! Womit kann ich dir dienen?«
    November hasste Lizzie. Diese aufgesetzte Fröhlichkeit, diese falsche Herzlichkeit, dieses lackiert wirkende Lächeln, die babyblauen Puppenaugen mit den klappernden Lidern ... »Zigaretten für meine Tante«, sagte sie schroff.
    »Zigaretten für Eliette. Soso.« Lizzie zwinkerte ihr zu und nickte verschwörerisch. »Du weißt aber, dass ich die dir eigentlich nicht verkaufen dürfte, oder?«
    November knallte die abgezählten Münzen auf den Tresen und drehte sich zur Zeitschriftenauslage um. Sie schob die Ärmel ihrer Strickjacke hoch und tat so, als vertiefte sie sich in die Hochglanzcover. Wütend. So wütend, dass sie

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