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Das Haus am Abgrund

Das Haus am Abgrund

Titel: Das Haus am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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November war sich ganz sicher, dass er alleine es mit der gesamten betrunkenen, pöbelnden Gruppe aufgenommen hätte, und wahrscheinlich hätte er auch noch gewonnen. Aber ebenso offensichtlich hatte er es vorgezogen, seine Familie nach Hause zu bringen. Ohne Streit.
    »Jamie Hewett«, sagte sie leise. »Du bist die längste Zeit mein Freund gewesen.«
    Adrian hatte ihre Worte anscheinend gehört, denn er sah sie fragend an. »Der hübsche Blonde?«
    »Hm.«
    »Tut mir leid.« Er sagte nicht, was genau ihm leidtat, aber das Mitgefühl in seiner Stimme tat ihr wohl.
    Sie liefen eine Weile stumm nebeneinander her. November beobachtete die beiden Männer, die vor ihnen gingen. Der Große hatte seinen Arm um die Schulter des Kleineren gelegt. Sie konnte seine tiefe Stimme hören, deren Brummen leise und sanft klang.
    »Er ist nett«, sagte sie.
    Adrian erwiderte nichts, und sie sah ihn nicht an, aber sie konnte sein Lächeln und das Licht in seinen Augen förmlich spüren. Etwas war seltsam an diesem Jungen, ganz und gar ungewöhnlich, und sie wusste nicht, was es war. »Du hast gesagt, dass du nicht wirklich verrückt bist.« Es war ein impulsiver Gedanke, der sich auf ihre Lippen gedrängt hatte.
    A drian lachte wieder dieses tiefe, anziehende, erwachsene Lachen. »Ich bin nur ein bisschen verrückt«, antwortete er und klang dabei regelrecht vergnügt. »Ich hab so ein Ding im Kopf. Einen Tumor. Der lässt mich Menschen sehen, die es nicht gibt.«
    Sie blieb stehen und starrte ihn an. »Du machst dich über mich lustig.« Nein, er riss keine geschmacklosen Witze, das konnte sie sehen. So heiter seine Antwort auch geklungen hatte, in seinen Augen stand etwas anderes zu lesen: Angst. Trauer. Zorn. Gefühle, die sie nur zu gut kannte – oh wie gut!
    Ihre Hand hatte sich selbstständig gemacht und nach seiner gefasst. »Oh«, sagte November. »Oh, was für ein Mist.«
    »Kannst du laut sagen.« Er zog seine Hand nicht weg, sondern erwiderte ihren Griff mit leichtem Druck. Warm, trocken, fest. Wie die Hand seines Stiefvaters.
    Sie wandten beide im gleichen Moment den Blick ab und gingen weiter. Ohne sich loszulassen. Es war tröstlich, eine Hand zu halten.
    Vor dem Museum löste November ihre Hand aus der des Jungen und hob verlegen die Schultern. »Danke fürs Heimbringen«, sagte sie zu den beiden Männern, die sie lächelnd ansahen. »Danke«, sagte sie zu Adrian. Sie fummelte den Schlüssel aus ihrer Jackentasche und steckte ihn ins Schloss.
    »Können wir ...«, sagte Adrian hastig, »… magst du, möchtest du, ich meine ... dass wir eine Tasse Tee zusammen trinken? Morgen? Bei uns?«
    November hielt den Türknauf so fest umklammert, dass ihre Finger taub wurden. »Nein«, sagte sie. Sie schnappte nach Luft. »Nein, ich ... nein. Ich glaube nicht.«
    Sein Gesichtsausdruck war mit einem Mal ganz leer, wie ein a usgeschalteter Fernseher. Seine Augen, die gerade noch so lebendig und voller Licht gewesen waren, wirkten wie matt bemalte Glaskugeln. Er sah an ihrem Ohr vorbei und nickte, als würde er jemandem zuhören, und sah dabei ein bisschen aus wie eine Bauchrednerpuppe.
    Sein Stiefvater, der mit Adrians Vater taktvoll ein kleines Stück beiseitegegangen war, kam mit zwei großen Schritten heran und griff nach Adrians Arm. »Es ist in Ordnung«, sagte er zu November. »Ary, komm. Weiteratmen, mein Junge. Wir gehen nach Hause.«
    November warf ihm einen fragenden Blick zu, der mit einem ausdruckslosen Nicken beantwortet wurde. »Guten Abend, Ms Vandenbourgh.« Er drehte sich um und veranlasste Adrian, der immer noch vollkommen weggetreten zu sein schien, sich mit ihm zu drehen. Sie konnte an den beiden vorbei einen Blick auf Adrians Vater erhaschen, der mit versteinerter Miene am Straßenrand stand und auf die beiden wartete. Sie leckte sich über die Lippen.
    »Adrian?« Er drehte sich nicht um, aber der große Mann wandte den Kopf und sah sie an. »Wie wäre es übermorgen? Tee bei dir?« Sie biss sich in die Wange. Warum hatte sie das jetzt gesagt?
    Magnusson hob die Hand zu einer Mischung aus Bestätigung und Abschiedswinken. »Ich richte es ihm aus«, rief er.
    November sah ihnen verblüfft nach. Ausrichten? Adrian stand doch neben ihm, hätte ihre Worte doch auch hören müssen. Aber der Junge stakte davon wie eine Aufziehpuppe, ohne sich noch einmal umzudrehen.
    Und er war doch verrückt.

11
    Es war totenstill. Sie konnte das leise Rauschen der Wellen hören, das Wispern des Windes in den Ästen der Bäume,

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