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Das Haus am Abgrund

Das Haus am Abgrund

Titel: Das Haus am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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am liebsten all diese Abbilder von grinsenden Visagen und gelackten Frisuren, von schicken Vorgärten, Nobelschlitten und Couture-Klamotten gepackt und in kleine Stückchen zerfetzt hätte. Wie sehr sie es hasste, wieder hier zu sein, in diesem Dorf, bei diesen Menschen, im übermächtigen Schatten dieses Hauses.
    Wieder vor dem Laden, holte sie tief Luft. Sie stopfte die Zigarettenpackung in die Tasche und verschränkte die Arme. Was jetzt? Sollte sie noch zum Hafen hinuntergehen? Sie blickte unentschlossen die Straße hinauf und hinab. Dieses unsäglich öde Kaff mit seinen Steinhäusern und Gärtchen, den Touristenläden und ihren immer gleichen Auslagen ... Sie hasste es mit einer Inbrunst, die sie beinahe zerriss. Sie wollte hier nicht sein. Warum zwang man sie dazu, an diesem Ort zu leben? Nur weil ihre Familie aus St. Irais stammte? Was war das für ein Grund?
    S ie ging mit schnellen, harten Schritten die Straße in Richtung Hafen hinunter und schenkte weder den Tea Rooms noch den kleinen Andenkenläden einen Blick. Niedrige Häuser aus grauem Stein, die sich vor dem Wind zwischen grüne Hügel duckten, mit grau gedeckten Dächern, sauberen weißen Sprossenfenstern, rot und grün lackierten Türen. Schmale, steile Straßen, das Schreien der Möwen und der Geruch des Atlantiks ... alles so malerisch und so wunderschön und so zum Kotzen.
    »November«, hörte sie eine Frau rufen. »November Vandenbourgh!«
    Sie ging schneller, tat so, als hätte sie nichts gehört.
    Die alte Frau stand plötzlich vor ihr, und November hätte sie umrennen müssen, um ihr zu entgehen. Sie blieb stehen und ließ es zu, dass die Frau ihr die Hand auf den Arm legte. »November«, sagte sie. »Kind, warum läufst du vor mir weg?«
    November blickte starr an der alten Frau vorbei. »Ich?«, erwiderte sie. » Du willst nichts von mir wissen. Du verdrehst da was.« Sie zog ihren Arm unter der Hand weg. »Darf ich weitergehen?«
    »Das ist nicht richtig.« Die alte Frau versperrte ihr immer noch den schmalen Gehweg. Sie stützte sich auf ihren Stock. November spürte ihren Blick, saugend, bohrend, fordernd. »Komm mit mir, lass uns einen Tee trinken und miteinander reden.«
    »Nein, danke.« Die Nähe der alten Frau war ihr unangenehm wie ein widerlicher Geruch oder ein zu enges Band um die Brust. »Ich möchte jetzt weitergehen. Tante Eliette wartet auf mich.« Sie drängte die alte Frau beiseite und schob sich an ihr vorbei.
    »November«, sagte die Frau bittend. »Liebes. Ich bin doch deine ...«
    N ovember hielt sich die Ohren zu und ging schneller. Das Gewinsel der alten Frau wurde vom Geräusch ihrer Schritte und dem Wind übertönt, der wieder auffrischte.
    »Danke«, sagte Tante Eliette geistesabwesend und griff nach dem Päckchen Zigaretten, das November ihr reichte. Sie blätterte die Seite in dem Folianten um, der vor ihr auf dem überfüllten Tisch lag, zwischen Teebecher und Kaugummipapier, Notizblöcken und zerknüllten Zetteln, einem Aschenbecher, Streichhölzern, einem roten Handy, Stiften und Haargummmis, Rollen mit Eintrittskarten und vertrocknenden Blumen. Tante Eliette war nicht die Ordentlichste. »War es nett?«
    November rollte die Augen. Was genau meinte Tante Eliette mit dieser Frage? Was sollte an einem Besuch des hiesigen Kramladens »nett« sein?
    »Okay«, murmelte sie.
    »Und?« Ihre Tante hob den Kopf und sah sie scharf an. »War etwas? Du bist ganz blass.« Sie bohrte den Fingernagel auf der Suche nach der Aufreißlasche in die Zellophanumhüllung der Zigarettenschachtel.
    November schüttelte den Kopf. »Es ist alles okay«, wiederholte sie etwas lauter. »Ich hab die alte Frau getroffen. Auf der Straße.«
    Eliette hörte auf, an dem Päckchen herumzureißen. »Von wem redest du?«
    Sie hätte sich am liebsten geohrfeigt. Warum hatte sie das überhaupt erzählt? Weil die alte Frau morgen oder übermorgen hier auftauchen und sich bei Tante Eliette über sie beklagen würde. November presste die Lippen zusammen. »Die alte Frau«, wie d erholte sie. »Vandenbourgh.« Sie konnte sehen, wie Tante Eliette langsam verstand – ihre Augen wurden groß und dunkel.
    »Nova«, sagte sie, und November konnte hören, wie sehr sie sich bemühte, ruhig zu bleiben, »Kind, du solltest so nicht über sie reden. Sie ist deine Großmutter.«
    November ballte die Hände zu Fäusten, um nicht das Gesicht zu verziehen. »Sie hat meine Eltern rausgeworfen«, entgegnete sie. »Sie wollte nichts von uns wissen. Sie hat

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