Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Haus am Abgrund

Das Haus am Abgrund

Titel: Das Haus am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
Vom Netzwerk:
ging zur Tür. Jamie war so beschäftigt, sich aufzuplustern und mit seinen Freunden gegen die Fremden in ihrem Revier zu hetzen, dass er gar nicht bemerkte, wie sie ging.
    Vor der Tür holte November tief Luft, um all die bösen Gedanken, Worte und Gefühle mit diesem kalten Hauch auszutreiben. Sie ging langsam ein Stück die Straße hinunter, blieb wieder stehen, blickte in den Nachthimmel und begann die Sterne zu zählen. Das hatte sie schon als Kind immer getan, wenn ihr etwas zu viel wurde.
    Der Stimmenlärm aus dem Pub schwoll für einen Moment an und wurde wieder erstickt. Eine Tür schlug zu. Gedämpfte Stimmen, Schritte, die sich näherten. November sah sich nicht um, wartete. Wer auch immer das war, sie sollten einfach vorbeigehen und sie in Frieden lassen.
    M ännerstimmen. Männerschritte. Sie kamen heran, wurden langsamer, blieben stehen. »Ist alles in Ordnung?«, fragte ein tiefer Bass freundlich.
    November seufzte. »Ja«, sagte sie. »Alles in Ordnung. Danke.« Sie warf einen Blick über die Schulter. Der Trucker, der Schriftsteller und der Junge, wie war noch sein Name? Sie zwang sich zu einem Lächeln.
    »Nova«, sagte der Junge. Sein angespanntes, blasses Gesicht belebte sich, und wieder war da das Licht in seinen Augen, als spiegele sich eine unsichtbare Lampe darin. Er lächelte sie an. »Bist du auf dem Weg nach Hause? Sollen wir dich begleiten?«
    Die beiden Erwachsenen, die sich schon halb abgewendet hatten, blieben stehen und sahen sie und ... Adrian, – so hieß er! – fragend an.
    »Das ist Nova. November – ah – Vandenbourgh«, stellte Adrian sie höflich vor. »Mein Vater, Tobias Smollett. Mein anderer Vater, Jonathan Magnusson.« Er wirkte gleichzeitig aufgeregt und konzentriert, wie ein junger Hund, der ein Kunststück vorführte und eine Belohnung dafür erwartete.
    November atmete resigniert aus. Sie reichte allen dreien die Hand und sagte höflich: »Wie geht es Ihnen?«
    Der große, bärtige Mann hielt ihre Hand fest. Seine Pranke war warm und trocken und sein fester Griff strömte Ruhe aus. »Wir bringen Sie nach Hause, Ms Vandenbourgh«, sagte er. »Es ist dunkel. Dort drinnen sind junge Männer auf Pöbelkurs. Ich möchte nicht, dass ein junges Mädchen alleine durch die Nacht gehen muss. Keine Widerrede.« Seine freundliche und bestimmte Art erstickte ihren Widerspruch. Sie bemerkte, dass sie ihn anlächelte – es war das erste Lächeln an diesem Tag, das i hr nicht schwerfiel. Sie sah ihn zum ersten Mal aus der Nähe an und schüttelte unwillkürlich den Kopf. Kein Trucker und kein Bauarbeiter, auch wenn er die Statur dafür hatte.
    »Sie widersprechen?«, fragte er mit einem Zwinkern.
    November schüttelte wieder den Kopf. »Das ist sehr freundlich von Ihnen – aber eigentlich gar nicht notwendig. Ich kenne mich hier aus und habe es nicht so weit.«
    Er nickte und legte ihr seine Hand auf die Schulter, als wäre er ihr Vater. Ganz offensichtlich hatte er nicht vor, sie alleine gehen zu lassen. November schossen Tränen in die Augen, die sie hastig wegblinzelte. Sie gab auf und folgte ihm.
    Der Schriftsteller sprach leise mit seinem Sohn. Es schien um die Szene im Pub zu gehen. »Wie sehr nimmt es dich mit?«, fragte Smollett.
    »Nicht schlimm«, erwiderte Adrian, aber seine Stimme war rau. »Ich bin ja langsam daran gewöhnt.« Sein Lachen war tief und angenehm, klang wie das eines erwachsenen Mannes. »Aber ›Wechselbalg‹ hat mich wirklich noch nie jemand genannt.«
    November blieb so abrupt stehen, dass Magnusson, der an ihrer Seite ging, stolperte. »Wer hat dich ›Wechselbalg‹ genannt?«, fragte sie scharf. »So ein hübscher Blonder? Jeans, grüner Sweater?«
    Adrian sah sie mit seinen unglaublichen Augen ernst an. »Ja.« Er zuckte die Achseln. »Ist nicht schlimm. Ich wäre deswegen auch nicht gegangen, aber die beiden sind immer so besorgt um ...«, November konnte spüren, dass er etwas verschluckte, »… na, eben besorgt. Dabei prügle ich mich nie.« Er lachte, aber es klang gezwungen.
    Sein Vater zog die Brauen zusammen. »Wir müssen das nicht wieder diskutieren. Ich bin kein Freund von Kneipenschlägerei e n, auch wenn sie nur verbal ablaufen. Ich ziehe es vor, das Feld zu räumen. Das hat nichts mit Feigheit zu tun.«
    November sah von ihm zu Adrian, der die Augen niederschlug und ganz offensichtlich einen Widerspruch hinunterschluckte, und dann zu dem großen Jonathan Magnusson, der die Fäuste ballte. Seine Augen waren dunkel und grimmig.

Weitere Kostenlose Bücher