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Das Haus am Abgrund

Das Haus am Abgrund

Titel: Das Haus am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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Vernunft. Und wenn Sie das Große Licht am Horizont sehen – folgen Sie ihm.« Er nickte mehrmals bedeutungsvoll. Ich verdrehte die Augen. Was für ein Geschwurbel!
    »Danke«, sagte ich, nur um ihn endlich loszuwerden. »Ich werde Ihre Worte beherzigen, Mr Moriarty.«
    Er erhob sich und deutete eine Verbeugung an. »Es erleichtert mich ungemein, das aus Ihrem Munde zu hören«, erwiderte er. »Sie sind ein verständiger junger Herr, Master Adrian.«
    » Warten Sie.« Ich drehte mich so, dass ich mich gegen die Wand lehnen und ihn ansehen konnte. Mein Kopf schien Anstalten zu machen, zu zerspringen oder mir einfach vom Hals zu fallen. Ich musste den Impuls unterdrücken, ihn festzuhalten. Nadeln stachen in meine Augen. Der eisige Druck, der von der Kalten Stelle ausging, wurde bohrend und scharfkantig. »Warten Sie. Ich muss es jetzt wissen. Sind Sie ein Lemur, Mr Moriarty? Oder gehören Sie zu den Guten?«
    Moriarty spitzte die blassen Lippen zu einem nachdenklichen, tonlosen Pfiff. »Lar oder Lemur? Sie stellen Fragen, Master Adrian. Sie stellen Fragen!«
    Er war fort, ohne dass ich sein Hinausgehen bemerkt hätte. Ich schlug mit der Faust auf mein Knie. Er hatte sich wieder um die Antwort gedrückt, also war es klar: ein Lemur. Was bedeutete das nun im Hinblick auf seine Warnung? Log er mich an, oder sagte er womöglich die Wahrheit, ging aber davon aus, dass ich seine Worte für eine Lüge halten würde? Ich war nicht klüger als zuvor.
    Ich ließ mich in mein Kissen zurückfallen und zog die Decke über den Kopf. Schlafen. Schlafen. Und bitte nicht träumen.

8
    Dies ist einer von den Tagen, an denen ich nicht aufstehen möchte. Ich möchte liegen bleiben, mir die Decke über den Kopf ziehen und den Tag verstreichen lassen. Zusehen, wie der Streifen Sonnenlicht über die niedrige Zimmerdecke wandert, von einem schwarz gestrichenen Balken zum nächsten, wie die Ziffern einer Sonnenuhr, bis es schließlich dämmert und wieder Nacht wird. Liegen. Mit offenen Augen vor mich hin dämmern. Nicht denken. Nichts fühlen.
    Aber ich stehe auf – denn ich weiß, wenn ich nachgebe, wenn ich liegen bleibe, dann ...
    Dann werde ich wahrscheinlich nie wieder aufstehen.

9
    NOVEMBER
    Wenn mich jemand fragt, wie es mir geht, dann darf ich nicht antworten, was die Wahrheit wäre: Ich bin wütend.
    Es ist Frühling und ich bin wütend.
    Tante Eliette fährt mit mir nach Truro und wir gehen einkaufen, ich komme mit Bergen von neuen Kleidern und Büchern nach Hause – und ich bin wütend.
    War ich jemals in meinem Leben etwas anderes als das? Wütend oder traurig?
    Ich kann mich nicht erinnern.
    Natürlich ist es besser, wütend zu sein, als rumzuheulen.
    November starrte auf das Tagebuch und biss sich dabei so heftig auf die Lippe, dass es schmerzte. Sie war voller Zorn und Hass auf die Welt, die gleichgültig und rücksichtslos weiter um ihre Achse rotierte, sich um die Sonne drehte, mit der Galaxis ihre Bahn durch ein gleichgültiges und rücksichtsloses Universum zog, während sie, November, hier an ihrem Tisch in der Kammer unter dem Dach saß und vor Wut und Trauer beinahe implodierte.
    S ie warf den Kugelschreiber auf die Tischplatte und schob das Tagebuch unter den Stapel mit Schulbüchern. Mathe. Die Aufgaben, die Jamie ihr aufgegeben hatte, waren noch nicht fertig. Aber so wütend, wie sie war, konnte sie sich nicht auf Algebra konzentrieren, beim besten Willen nicht!
    Sie sprang auf und riss ihre Strickjacke vom Haken hinter der Tür. Sie rannte die Treppe hinunter. Tante Eliette saß hinten in ihrem kleinen Büro und arbeitete. Das Radio war auf einen Klassiksender geschaltet, der leise Hintergrundmusik dudelte. November umging die knarrende letzte Stufe und schlich zur Tür.
    »Nova, wohin gehst du?«
    November stieß einen Seufzer aus. Tante Eliette hatte Luchsohren und wahrscheinlich eine Kamera im Türpfosten installiert, nur um sie auszuspionieren und zu überwachen. »Ich muss nur mal eben rüber zu Lizzie. Hab keine Tintenpatronen mehr.«
    »Bring mir Zigaretten mit«, erklang die Antwort. November seufzte wieder und machte kehrt, um Geld einzustecken.
    Eigentlich hatte sie nur ein bisschen die Straße auf und ab laufen wollen. Vielleicht ein paar Steine ins Hafenbecken werfen und gegen einen Baum treten. Ein bisschen schreien.
    Sie schnaufte und stemmte die Hände in die Jackentaschen. Der kühle Wind ließ den Rocksaum gegen ihre Beine flattern und eine Gänsehaut auf ihren Schienbeinen erblühen. Idiotisch.

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