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Das Haus am Abgrund

Das Haus am Abgrund

Titel: Das Haus am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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die das Haus umstanden wie stumme Wächter, aber nichts sonst. Sie war ganz allein in dem riesigen, düsteren Haus. Die Halle, in der sie stand, war so prachtvoll wie schrecklich. Verirrte Strahlen der untergehenden Sonne zauberten blitzende Reflexe aus Kristallprismen, schimmerten matt auf goldenen Bilderrahmen, fingen sich funkelnd in Spiegelglas und brachen sich in dem polierten Marmor, den geölten Holzflächen, dem dunkelroten Samt der Portieren und der Polster. Sie kannte dieses Haus so gut wie ihre eigene Handfläche und es war ihr gleichzeitig vollkommen fremd. Dort hinten führte eine Tür in die Wirtschaftsräume. Sie konnte sich an die Küche mit ihren blinkenden Kupferpfannen erinnern, an die rußigen Balken, an das große schwarze Herdungetüm mit dem glühend roten Herzen aus Feuer. Dann der große Ballsaal im ersten Stock, mit den tiefen Fenstern und den funkelnden Lüstern, den goldgerahmten Spiegeln und kleinen Tischen und Stühlen. Sie war über das glänzende Parkett geschwebt, in einem schwingenden Kleid, in den Arm eines jungen Mannes geschmiegt, der sie voller Zärtlichkeit ansah.
    I hr Vater, mit dunklen Brauen und dem eckig gestutzten Bart, der finster wie ein grollender Gott am Fensterkreuz lehnte. Ihre Mutter, sanft und golden wie Sonnenschein im Herbst. Sie trug ein weißes Kleid und saß in ihrem Lieblingssessel am Fenster. So krank. Immerzu so krank.
    Novembertochter, flüsterte das Haus. Winterkind. An deinem sechzehnten Geburtstag gehörst du endlich mir ...
    Wieder die Halle. Schutt knirschte unter ihren Füßen. Es roch nach Rauch, nach verkohlten Balken und glimmenden Trümmern. Durch das eingebrochene Dach drang der feine, unablässige Sprühregen, der die Reste des Feuers nach und nach löschte. Das Haus war eine Ruine, aber immer noch rief es nach ihr. Novembertochter. Winterkind ...
    Als November erwachte, brauchte sie einige Atemzüge, bis sie wieder wusste, wer und wo sie war. Ihr eigenes kleines Zimmer erschien ihr so fremd, dass sie einen Moment lang vor Angst starr dalag, ehe sie weiterzuatmen wagte. So war sie schon oft erwacht, fremd in der eigenen Haut, im eigenen Bett. Wann würden diese Träume endlich ein Ende finden?
    Jamie Hewett stand mit zerknirschter Miene vor der Museumstür, als November sie aufschloss. Er hielt ihr einen zerdrückten Veilchenstrauß hin und stotterte: »Ich wollte mich bei dir entschuldigen.«
    November musterte ihn eisig, die Blumen ignorierend. Ihr schweigendes Starren machte ihn noch nervöser. Er trat von einem Fuß auf den anderen, senkte aber die Hand nicht, sondern hielt ihr weiter den Strauß hin. »Ich hab mich schlecht benom m en. Wirklich, es tut mir leid. Ich war nicht mehr ganz nüchtern, und da waren meine Kumpels ...«
    »Du solltest dich nicht bei mir entschuldigen, sondern bei Adrian«, unterbrach November ihn.
    Er sah sie mit einer Miene an, die deutlich sagte, dass er nicht wusste, wovon sie sprach. »Wer ist Adrian?«
    November schnaufte wütend. »Adrian Smollett. Der Junge, den du ›Wechselbalg‹ genannt hast!«
    Jamie wurde wahrhaftig rot. Er schlug die Augen nieder. »Es tut mir leid, echt«, wiederholte er kleinlaut.
    November wollte es zwar nicht, aber sie bekam Mitleid mit ihm. Sie nahm ihm den Veilchenstrauß ab, zuckte mit den Achseln und schob die Tür auf. »Na gut, komm rein.«
    Jamie drückte sich an ihr vorbei. Er roch nach Zigaretten, Wind und ein bisschen nach Schweiß, aber es war nicht unangenehm. Jungs rochen so. Ihr Bruder hatte auch immer so ...
    November zuckte vor dem Gedanken zurück und schloss die Tür. Sie verschränkte die Arme und lehnte sich an das Treppengeländer. »Ich will nicht mehr, dass du mir Nachhilfe gibst«, sagte sie geradeheraus. »Ich komme nicht damit klar, dass du so über nette Leute wie die Smolletts redest. Ihr habt sie gestern aus dem Sailors verjagt.«
    Er zuckte mit den Schultern. »Ich war ziemlich betrunken«, sagte er. »Ist keine Entschuldigung, ich weiß. Aber schau mal, alle sagen das.«
    »Alle sagen was ?« November wurde schon wieder wütend.
    Er zog den Kopf noch tiefer zwischen die Schultern. »Dass wir keine Schwulen hier im Dorf wollen. Und der Junge ist verrückt. Echt, der hat eine Vollmeise.«
    » Oh, Jamie Hewett, du bist so blöd, wie du lang bist!«, rief November aufgebracht. »Adrian ist nicht verrückt, er ist – er hat ... das geht dich nichts an. Aber er ist freundlich und höflich und hat mehr Grips zwischen den Ohren, als du je in deinem Leben

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