Das Haus am Abgrund
Lemuren. Dann macht mein Stift sich selbstständig und strichelt ein großes Haus mit vielen Giebeln. Düster steht es vor einem noch dunkleren Himmel, ein blasser Mond lässt die Konturen scharf hervortreten. Seine Fenster starren wie Augen ...
Heathcote Manor. Der Anblick dieser Skizze erschreckt mich auf unerklärliche Weise. Das Haus sieht aus wie ein Monster, das darauf lauert, mich mit Haut und Haar zu verschlucken, meine Knochen zu zerkauen und meine Seele zu fressen. Ich reiße das B latt aus meinem Skizzenbuch und knülle es fest zusammen, als wollte ich verhindern, dass etwas Böses daraus entkommt.
Ich habe von dem Haus geträumt. Ich bin durch seine finsteren Gänge gewandert und habe nach jemandem gesucht. Nach November. Sie ist in großer Gefahr, und ich bin der Einzige, der sie retten kann. Aus den Wänden des Hauses sickerte Schwärze, wie Teer, wie flüssige Schatten. Bosheit. Uralte, giftige Bösartigkeit.
Als ich aufwachte, war ich nass geschwitzt, dabei zog es kalt durchs Fenster.
Ich schüttelte die Erinnerung an die Bilder ab, die mich wie mit klebrigen Spinnenfäden zurück in den finsteren Traum ziehen wollten, und konzentrierte mich wieder auf mein Notebook. Auf der Seite blinkte der Cursor hinter dem mageren Satz, der ganz oben auf dem Bildschirm stand. »Ich habe es gewusst, dass ich das mit dem Tagebuch nicht durchhalten würde.«
Nein, das Schreiben ist nichts für mich. Danke. Wenn Toby es schafft, den ganzen Tag an seinem Schreibtisch zu hocken und Worte auf den Bildschirm zu schicken, dann bewundere ich das. Ich mag Bücher, wirklich. Aber für mich ist das wie eine Folter. Meine Gedanken verflüchtigen sich, sobald ich einen Blick auf sie werfe. Sie wollen sich nicht fangen lassen. Ich kann sie denken, aber wenn ich meine Finger bewege, um sie einzufangen, dann flitzen sie davon wie kleine silberne Fische.
Ich klappte mein Notebook zu und hüpfte ein paar Mal auf der Stelle, weil mir der Fuß eingeschlafen war. Dabei sah ich auf die Uhr. Wenn ich jetzt losginge, dann wäre ich früh genug im D orf, um auch noch einen Blick ins Museum werfen zu können. Vielleicht war November ja zufällig da ...
Aber eigentlich wollte ich zu jemand anderem – Milton Skegg –, und der schien gar nicht so leicht aufzutreiben zu sein. Ich hatte natürlich als Erstes Lizzie nach ihm gefragt.
»Milton?!« Ich konnte das Ausrufezeichen förmlich hören. »Was willst du denn von dem ?!«
Ich erklärte, dass Eliette Burges mir den Tipp gegeben hatte, ihn nach Heathcote Manor und seinen Bewohnern zu fragen.
Lizzie verzog zweifelnd den Mund. »Na«, sagte sie. »Na, na. Ausgerechnet Milton Skegg.« Sie lehnte sich gegen die Theke und kreuzte die Arme vor ihrem ausladenden Busen. »Milton ist keine Gesellschaft für einen wohlerzogenen jungen Mann wie dich, Adrian. Ich glaube nicht, dass dein Vater es gerne sähe, dass du dich mit ihm triffst.«
Was auch immer sie mit ihrer Warnung hatte erreichen wollen – ich war jetzt nur noch neugieriger und brannte darauf, Skegg zu treffen. »Was hat er denn verbrochen?«, fragte ich.
Sie räusperte sich und schob einen Karton mit Kaugummis von einer Seite auf die andere. »Milton ist kein schlechter Mensch«, sagte sie ausweichend. »Er hat es auch nicht leicht gehabt. Hatte einen guten Job, aber als das Journal dichtgemacht hat, hat er auf der Straße gesessen. Man hatte ihm ja sogar angeboten, dass er in Taunton in die dortige Redaktion wechseln kann – aber er wollte nicht aus St. Irais weg. Um keinen Preis der Welt. Seitdem hält er sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser.« Sie rümpfte ein wenig die Nase. »Er haust unten in einem Schuppen am Pilchards’ Bay, wenn er nicht gerade mit seinem Wohnmobil unterwegs ist.«
A lso machte ich mich auf den Weg zum Pilchards’ Bay – ohne noch im Museum vorbeizuschauen. November wollte mich wahrscheinlich ohnehin nicht sehen, immerhin war sie gestern mit Jamie plötzlich davongestürmt. Was hatte sie wohl bei dem Gedanken, nach Heathcore Manor zu gehen, so erschreckt?
Der alte Fischereihafen war eine öde, verlassene Ansammlung von verfallenen Schuppen, Überresten von Tauen und Netzen und den vor sich hin modernden Rümpfen von Fischerbooten, die mit nach oben gedrehtem Kiel wie gestrandete Wale auf dem steinigen Grund lagen. Es roch durchdringend nach Fisch, Algen, Salz und brackigem Wasser. Ich würgte und hielt mir den Ärmel meines Pullovers vors Gesicht, bis meine Nase sich an den Gestank zu gewöhnen
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