Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Haus am Abgrund

Das Haus am Abgrund

Titel: Das Haus am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
Vom Netzwerk:
ich hatte sagen wollen. »Das Haus kann einen richtig verfolgen.«
    Ihre Augen weiteten sich. Sie schluckte und sagte dann: »Dich auch.« Es war keine Frage, also antwortete ich nicht darauf. Ich zuckte die Schultern. »Möchtest du dich nicht setzen?«
    Sie ließ sich auf der Kante des Korbsessels nieder und faltete die Hände um ein Knie. Es sah hübsch aus. Das Licht malte einen hellen Schimmer um ihren Kopf, von dem einzelne blonde Haare abstanden wie Löwenzahnsamen. Ich zwang mich, anderswohin zu blicken. »Möchtest du Tee?« Ich hob einen Kohlestift auf, der zwischen der Staffelei und dem Bett lag, und drehte ihn in den Fingern.
    Sie antwortete nicht gleich. »Hm«, machte sie dann geistesabwesend. Ich sah sie fragend an. Ihr Blick war auf mein Bett gerichtet. Auf das rote Tagebuch, das immer noch auf dem Kopfkissen lag. Ich hatte es mir genauer ansehen wollen, weil ich darin ein paar Sätze gelesen hatte, die mich neugierig gemacht hatten. Das Mädchen, dem das Tagebuch gehört hatte, s chien in Heathcote Manor gewohnt zu haben. Sie schrieb von einem Cousin, der Jules hieß, und ihrer Schwester Sam, von einer kranken Mutter – und es klang so traurig und gleichzeitig tapfer, was sie schrieb, als wäre auch sie krank und würde mit aller Kraft darum ringen, es sich nicht anmerken zu lassen.
    Ehe ich etwas sagen oder tun konnte, beugte sie sich vor und nahm es, schlug es auf und blätterte darin herum. »Was ist das?«, fragte sie. »Das ist doch nicht deins?«
    »Nein, das gehört – das gehörte meiner Mutter«, behauptete ich.
    Sie hörte mir nicht zu, las und runzelte dabei die Stirn. »Deiner Mutter«, sagte sie nach einer Weile mit einer Stimme, die irgendwo aus der nächsten Galaxis zu kommen schien.
    Ich räusperte mich. »Na ja. Nicht ganz.«
    Sie sah auf. »Wo hast du das her?«
    Ich konnte den Ausdruck ihrer Augen nicht ertragen. Sie sah mich so traurig, so verletzt und gleichzeitig so unbeschreiblich wütend an, als hätte ich ihr etwas richtig Schlimmes angetan. Sie geschlagen oder was weiß ich. Ich kapitulierte. »Ich habe es von Milton Skegg, der früher einmal für das St. Irais Journal geschrieben hat. Ich habe ihn nach dem Haus gefragt. Da hat er mir das ... gegeben.«
    Nova hörte mir zu, ohne etwas dazu zu äußern. Sie las in dem Buch und runzelte die Stirn. Dann schlug sie das Büchlein zu, steckte es in die Tasche ihrer Strickjacke und stand auf. »Gehen wir.«
    Erst auf der Treppe merkte ich, dass ich wie ein Schaf hinter ihr her trabte. »Wohin?«, fragte ich ein bisschen verspätet.
    Sie lief leichtfüßig die Stufen hinunter. »Heathcote Manor«, e rwiderte sie kurz. Das verschlug mir den Atem, bis wir im Garten angelangt waren und auf das Loch in der Mauer zusteuerten.
    »Was?«, sagte ich, wieder mit etwas Verspätung. »Wieso willst du auf einmal dorthin?«
    Sie hielt nicht an. Ihre Schultern waren steif vor Anspannung, ich konnte ihre Angst förmlich riechen, aber sie ging weiter. »Ich will es sehen«, hörte ich sie sagen. »Ich will es mit eigenen Augen sehen. In dem Buch stand etwas, das kam mir bekannt vor. Die Halle, die Treppe hinauf ins erste Geschoss. Ich kenne diese Halle.«
    Was? Heathcote Manor war eine Ruine, dort war nichts außer Schutt und Steinen. Wie konnte sie die Halle wiedererkennen? Ich lief hinter ihr her, kletterte über den Mauerrest, rannte weiter. Sie legte ein erstaunliches Tempo vor, ihre schmale, entschlossene Gestalt tauchte vor mir in den Schatten des Hauses.
    Die Temperatur schien schlagartig unter den Gefrierpunkt zu fallen. Ich fröstelte. Kaum zu glauben, dass heller Nachmittag war, die Sonne schien und die Vögel sangen. Ich hätte schwören können, dass es in der Nähe des Hauses immer kurz vor Mitternacht war und Winter. Ich legte den Kopf in den Nacken. Das Haus hatte fünf Giebel, das fiel mir jetzt erst auf. Sie hingen über meinem Kopf wie Lawinen, die jeden Moment auf mich niedergehen wollten. Ich blickte hastig wieder nach unten, weil mir schwindelig wurde. Ein Stück weiter vorne verschwand Nova gerade um die Hausecke. Ich beeilte mich, sie nicht zu verlieren, aber sie blieb immer eine Länge vor mir. Als ich an der Treppe ankam, die zur Haustür hinaufführte, war sie schon oben, und als ich die Stufen erklommen hatte, erwartete mich die geöffnete Tür. Ich blieb einen Moment davor stehen und sammelte mich. I ch wollte das Innere des Hauses nicht betreten. Ich wollte in meinem Zimmer sein und alte Zeitungsausschnitte

Weitere Kostenlose Bücher