Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Haus am Abgrund

Das Haus am Abgrund

Titel: Das Haus am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
Vom Netzwerk:
den Knöpfen herum, aber das Rauschen, Jaulen und Pfeifen hörte nicht auf. Novembers Mutter beugte sich plötzlich vor, was mich zu Tode erschreckte. Ich sah, wie November nach ihrer Schulter griff, aber Ms Vandenbourgh schüttelte sie ab. Sie legte ihre totenblasse Hand auf mein Knie und flüsterte: »Helfen Sie mir. Bitte, helfen Sie mir!«
    » Mama«, sagte November, »bitte, lass das doch!«
    Ihre Mutter ließ sich davon nicht beirren. Sie klammerte ihre Finger um mein Knie und wiederholte: »Helfen Sie mir, bitte. Wir alle sind so verzweifelt ...« Ihr Gesicht verzerrte sich, als wollte sie weinen, aber da waren keine Tränen. Ihr Blick war unverändert starr, die Pupillen klein wie Staubgefäße.
    »Mama«, sagte November und zog sie auf das Sofa zurück. Sie drückte sie gegen das Kissen und deckte sie sanft mit der heruntergerutschten Tagesdecke zu. »Alles ist gut«, sagte sie und streichelte die Hand ihrer Mutter. Ich hörte das Zittern in ihrer Stimme. »Adrian, bitte entschuldige. Meine Mutter ist nicht gesund.«
    Ms Vandenbourgh saß wieder wie zu Beginn da, reglos, und starrte die Zimmerecke an. Ich holte tief Luft. Das Radio knackte laut und spielte Tschaikowsky.
    »Na bitte«, rief Mr Vandenbourgh zufrieden aus und kehrte zu seinem Sessel zurück. »Lauft, amüsiert euch, Kinder. Wir alten Leute müssen euch doch langweilen.«
    November sprang mit erleichterter Miene auf. »Danke, Papa.« Sie zog mich hoch.
    »Sieh bitte noch nach Sam«, sagte ihr Vater und steckte die Pfeife zwischen die Zähne. »Ich glaube, sie hat sich wieder in ihrem Zimmer verbarrikadiert.« Er schlug die Zeitung auf und versank erneut in seiner Lektüre.
    »Sam?«, fragte ich auf dem Weg zur Tür.
    »Samhain. Meine Schwester.«
    »Ich dachte, die heißt April?«
    Sie öffnete die Tür und warf mir einen schrägen Blick zu. »Wie kommst du darauf?«
    I ch schüttelte verwirrt den Kopf. »Warum verbarrikadiert sie sich?«
    November lachte. »Sie ist ein bisschen nervös.« Ihr Lächeln erschien mir ebenso gezwungen wie die Munterkeit, mit der sie jetzt meine Hand nahm. »Du hast es ja erlebt. Mama hatte einen Nervenzusammenbruch und Sam kommt damit nicht zurecht. Sie macht uns alle mit ihrem Getue verrückt, wirklich.«
    Sie tat mir leid. Sie versuchte so sehr, gute Miene zu machen, sich nichts anmerken zu lassen, fröhlich zu wirken, aber das alles war so hauchdünn wie eine zarte Eierschale. Einmal dagegengeklopft, und ihre Fassung würde in tausend Stücke zerspringen.
    Ich blieb stehen. Sie hielt an und wandte das Gesicht ab. »Was ist?«
    »Und du?«, fragte ich. »Wie geht es dir?«
    Sie schüttelte den Kopf. Ich konnte ihren Ausdruck nicht erkennen, weil sie sich jetzt ganz von mir wegdrehte. »Mir geht es bestens«, sagte sie schroff. »Ich bin das Winterkind. Wir sind stark, weil wir stark sein müssen.«
    Ich verstand nicht, was sie damit sagen wollte. Mir fiel wie ein Echo aus einer entfernten, längst vergangenen Zeit ein, was Milton Skegg erzählt hatte. »Warst du nicht eine Zeit lang weg? In einer ... Klinik?«
    Sie fuhr mit einer Heftigkeit zu mir herum, die mich zurückweichen ließ. »Weg von hier?« Sie atmete hastig ein und wieder aus. »Wer erzählt denn so etwas? Wir können nicht wegziehen. Wir sind Vandenbourghs. Uns gehört das Haus !«
    Ein Echo schien ihre letzten Worte zu wiederholen. Das Haus. Haus. Ha… Hhhhh…
    »Ist ja gut«, sagte ich schnell. »Ich wollte dich nicht ärgern, N ovember. Du hast mir nur leidgetan. Mit deiner Mutter und überhaupt. Du siehst immer so traurig aus.«
    Sie sah mich an. Alles, was fröhlich gewesen war, war verschwunden. Trauer war ein zu kleines Wort für das, was sich in ihrem Gesicht ausbreitete. Sie verzog den Mund wie zum Weinen, aber wie vorhin bei ihrer Mutter blieben ihre Augen vollkommen trocken und sahen mich kalt mit einem fernen Blick an.
    Ich machte unwillkürlich einen Schritt auf sie zu und legte meine Arme um sie. Ich wollte nichts weiter, als sie trösten und ihr etwas Wärme abgeben, denn ich kannte die Kälte, die ihren Blick erfüllte, nur zu gut. Die Kalte Stelle fühlte sich so an. Dieser Schmerz, der kein Gefühl mehr war, sondern eine ganze Welt, schwer und lastend, massiv wie ein Neutronenstern, erdrückend, erstickend ... kalt.
    Sie stand stocksteif in meiner Umarmung, dann gab sie nach und legte ihren Kopf an meine Schulter. Es fühlte sich gut an. Ihre Arme legten sich nach einem kurzen Moment des Zögerns um meine Hüften. Das fühlte

Weitere Kostenlose Bücher