Das Haus am Abgrund
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»Roshi?«, sagte ich halblaut, »bist du da?« Es hätte mich beruhigt, den alten Mann an meiner Seite zu wissen. Aber wie immer, wenn ich meine Laren brauchte, machten sie sich rar. Ich rieb die Hände an meiner Hose, holte tief Luft und tauchte in das finstere Maul des Hauses.
*
»Ah, Bernard hat die Sicherung wieder reingedreht.« Sie lächelte und reichte mir die Hand.
Ich blinzelte kurz und erschreckt. Gerade noch war es stockfinster und kalt gewesen und das Haus nur eine zerfallende Ruine – und jetzt strahlte der Kronleuchter über meinem Kopf und tauchte alles in ein warmes, freundliches Licht. Die Halle erschien mir beinahe vertraut. Aber wie war ich hierher gekommen? War ich nicht eben noch mit Nova durch den Garten gelaufen? Jetzt stand sie in einem langen Kleid vor mir und streckte mir die Hand entgegen. Mir drehte sich der Kopf. Ich schüttelte meine Beklommenheit ab und nahm ihre Hand. »Komm«, sagte sie. »Meine Eltern sind oben im Salon.«
Ich folgte ihr wie im Traum. Ihre Eltern? Hatte es nicht einen Unfall gegeben? Meine Gedanken wurden immer verschwommener. Ich versuchte, mich zu konzentrieren, aber das gelang mir nicht. Die Treppenstufen knarrten leise unter meinen Füßen. Die Treppe war mit einem dunkelroten Teppich belegt, der auf jeder Stufe mit einer dünnen Messingstange gehalten wurde. Es sah sehr nobel aus.
D er obere Korridor erstreckte sich anscheinend über die gesamte Länge des Hauses. Hier hätte man ein Fahrradrennen veranstalten können. Die Wände waren mit dunklem Holz getäfelt, überall hingen Bilder in schweren Rahmen. Das Licht war gedämpft, die Läufer auf dem Boden glühten in satten Farben. Das alles sah unglaublich elegant und vornehm aus. Ich begriff jetzt erst, dass die Familie, die hier wohnte, steinreich sein musste.
November führte mich zu einer Tür, hinter der ich leise Musik und Stimmen hören konnte. Ich räusperte mich nervös. Gleich würde ich Novembers Eltern kennenlernen, sie würden mich taxieren und mir Fragen stellen – und ich hatte das schreckliche Gefühl, dass sie mich nicht mögen würden. Ich trug nicht besonders saubere Jeans und mein Sweatshirt hatte ein Loch am Ellbogen. Auf meinen Turnschuhen klebten Farbkleckse. Ich sah aus wie ein Penner! Waren wenigstens meine Fingernägel sauber?
November öffnete die Tür und schob mich ins Zimmer.
So hatte ich mir einen »Salon« immer vorgestellt. Es gab kleine Sitzgruppen mit niedrigen Tischen, in der einen Ecke stand ein Klavier, die Wände waren mit dezent gemusterten Tapeten bespannt, Lampen ließen kleine Lichtinseln überall im Raum entstehen und in einem großen Kamin brannte ein Feuer. Die Musik, die ich gehört hatte, schien aus dem Radio zu kommen, einer großen, altmodischen Kiste aus Holz. Die dicken Samtvorhänge waren fest geschlossen, und meine Füße standen auf einem dicken, weichen Teppich. In der Mitte des fußballfeldgroßen Raumes befand sich eine Sitzgruppe aus einem breiten, dunkelgrünen Ledersofa mit vielen Kissen und einigen großen Sesseln. Auf dem Sofa ruhte eine Frau in einem hellen Kleid, die November unglaublich ähnlich sah. Sie war blond und blass und h atte die gleichen hellen Augen, aber im Gegensatz zu November sah sie irgendwie krank aus. Sie blickte mich erschreckt an, als hätte sie jemand anderen erwartet.
»Mama, Papa, das ist Adrian«, stellte November mich vor. Der bärtige Mann, der dem Sofa gegenüber saß, ließ seine Zeitung sinken und sah mich prüfend an. Er rauchte eine Pfeife, die er jetzt beiseitelegte, um mir die Hand zu reichen.
»Adrian Smollett«, sagte ich. »Mein Vater hat das Kutscherhaus gemietet.«
Er nickte und legte seine Zeitung beiseite. »Setzen Sie sich, Mr Smollett. Gefällt es Ihnen hier in St. Irais?«
Ich unterhielt mich ein paar Minuten mit ihm über den Ort und das gute Klima, während der starre Blick von Novembers Mutter mir Löcher in die Haut laserte. Sie ruhte still wie eine Puppe auf dem Sofa, sagte nichts, bewegte sich nicht, sah mich nur an. Ich konnte ihren Blick beinahe schmerzhaft spüren.
November hatte sich neben sie gesetzt und streichelte ihre Hand, aber Ms Vandenbourgh schien die Anwesenheit ihrer Tochter gar nicht zu bemerken. Ich zog unbehaglich die Schultern hoch. Warum starrte sie mich so an?
Die Musik, die aus dem Radio kam, brach ab, als wäre der Sender verloren gegangen. Es rauschte, knackte und pfiff. Novembers Vater gab einen ärgerlichen Laut von sich und stand auf. Er drehte an
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