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Das Haus am Abgrund

Das Haus am Abgrund

Titel: Das Haus am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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er nach einer langen Pause fort. »Es verfällt langsam zu einer Ruine.« Er hustete und spuckte einen Batzen Schleim ins Gebüsch. »Die Dorfleute sind darüber nicht erfreut. Gar nicht. Das Haus ist darüber nicht erfreut.«
    »Heathcote Manor ist keine Ruine«, wandte ich unsicher ein. »Glaube ich jedenfalls. Ich sehe es jeden Tag. Manchmal ist Licht in den Fenstern.«
    E r starrte mich an. Nickte. Lächelte, aber es war kein fröhliches Lächeln. »Du siehst es«, sagte er. »Ich sehe es. Manchmal.« Er rieb sich über die Augen. »Lass gut sein, Junge«, murmelte er. »Sei froh, dass ihr irgendwann wieder abreist, deine Familie und du. Vergiss das Haus. Vergiss es einfach.«
    Ich kaute auf meiner Unterlippe herum. Ich würde nicht abreisen – jedenfalls nicht auf die Weise, wie man das normalerweise tat.
    »Die Besitzerin«, sagte ich. »Sie hat also in letzter Zeit nicht im Haus gewohnt.«
    »Nein.« Er rauchte und kniff die Augen zusammen. »Schon lange nicht mehr. Sie hat in den USA gelebt, ist erst vor einigen Jahren wieder hierher zurückgekehrt. Hab ich dir das nicht schon mal erzählt?« Er hustete und trank einen Schluck. »Ich habe natürlich versucht, mit ihr zu reden, weil mich das Haus einfach nicht losgelassen hat und weil ich ihr erzählen wollte, was ich herausgefunden habe. Ich hoffte, dass sie mir etwas mehr über diese Novembertöchter erzählen könnte, weil sie doch eine Enkelin hat, die so heißt.« Er schwieg, rauchte, schien mich vollkommen vergessen zu haben. Seine Stimme war so leise, als spräche er zu sich selbst. »Sie hat mich nicht vorgelassen. Dann habe ich sie abgefangen, als sie zum Dorfladen ging. Sie war nicht sehr freundlich. Ich glaube, wenn sie eine Knarre gehabt hätte, hätte sie mich erschossen.« Er lachte, hustete, trank.
    Ich sortierte all das in meinem Kopf. Soweit es sich sortieren ließ. »Nova«, sagte ich nach einer Weile. »Wie war das mit dem Unfall?«
    Er legte den Kopf an die Wand des Schuppens. »November Vandenbourgh. Ein traditionsreicher und tödlicher Name.« Der R auch der Zigarette kräuselte sich vor seinem Gesicht. »Die Kleine hatte verdammtes Glück. Oder verdammtes Pech, je nachdem.« Er schnipste den Stummel in eine Pfütze. »Ihre Mutter wollte schließlich nicht mehr hierbleiben. Sie war es leid, sich von der alten Frau tyrannisieren zu lassen, und sie war es leid, ohne Geld in diesem öden Dorf gestrandet zu sein. Also hat sie Augustus so lange bekniet, bis er weich wurde. Sie wollten nach London ziehen.«
    Er schwieg und rollte die Flasche zwischen den Handflächen. Sprach nicht weiter.
    »Und dann?«, fragte ich.
    Er trank, schüttelte den Kopf. »Geh nach Hause, Junge«, sagte er. »Nimm das Zeug und geh. Ich bin müde.« Er stand auf, hielt sich an der Wand fest. Stand da mit gesenktem Kopf, bis er sich endlich aufrichtete und mit nicht ganz sicheren Schritten hinüber zu seinem Campingbus ging. Ich sah ihm zu, wie er hineinkletterte und die Tür hinter sich schloss. Ende der Märchenstunde.
    Mit dem Gefühl, mehr Fragen als Antworten bekommen zu haben, kehrte ich in den Schuppen zurück und packte meinen Rucksack voll mit einigen wahllos herausgegriffenen Bündeln Papier, mit denen ich mich dann auf den Rückweg machte.

Novembers Tagebuch
    St. Irais, 3. Juni
    I ch frage mich manchmal, was ich für ein Mensch wäre, wenn ich nicht November wäre. Sondern zum Beispiel Samhain, meine Schwester. Würde ich das Leben mit anderen Augen sehen? Wäre es heller oder leichter? Ich würde sicher nicht in meinem Zimmer hocken und ich hätte auch keine Kopfschmerzen wie Sam. Sie ist doch nur so grässlich gelaunt, weil sie Angst hat, genau wie ich.
    Aber ich bin das Winterkind. Ich bin die Novemberbraut. Ich werde sterben – und seht ihr mich etwa jammern und flehen, man möge mich retten?
    Ich bin November Vandenbourgh. Ich werde hoch erhobenen Hauptes gehen, wenn meine Zeit gekommen ist! Das ist seit Jahrhunderten Brauch in unserer Familie, es garantiert uns und den Menschen, für die wir Verantwortung tragen, Gesundheit und Wohlstand und hält das Übel von allen fern, die wir lieben.
    S o hat Papa es mir erzählt, als ich noch ein kleines Mädchen auf seinem Schoß war. Er sagt, ich solle stolz sein darauf, dass ich das Winterkind bin. Dass es eine Ehre sei. Eine große Verantwortung.
    Aber davon wollte ich dir gar nicht erzählen, Tagebuch. Sondern davon, dass er mich geküsst hat! Adrian, du weißt schon.
    Ich war sehr überrascht und ein

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