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Das Haus am Abgrund

Das Haus am Abgrund

Titel: Das Haus am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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rief November von oben. Ich hörte ein metallisches Scharren. Wenig später fiel wieder Licht in die Tiefe. Ich packte die erste Sprosse und zog mich hoch.
    Ein paar Atemzüge später hievte ich mich durch die Öffnung hinaus ins Freie. Ich blieb einen Moment lang hocken und schnappte nach Luft. Kondition? Null.
    November stand da und blickte aufs Meer. Der Wind drückte das helle Kleid gegen ihre schmalen Glieder und zauste ihr Haar. Sie hatte die Arme verschränkt und stand vollkommen reglos da, versunken in den Anblick des Mondlichts auf dem Wasser.
    Ich stand auf und ging zu ihr. Es war, als wären wir vollkommen allein auf der Welt. Ich konnte ein Stück der Küste sehen, die steile Klippe, an deren Rand wir standen, das endlos weite Meer. Der Leuchtturm auf der anderen Seite der Bucht ließ sein Licht aufblitzen, aber es wirkte matt und glanzlos gegen die Flut aus Silber, die der volle Mond über uns ergoss.
    »Hier ist es immer friedlich«, flüsterte sie. »Und immer ist da die Straße übers Meer, siehst du sie?«
    Der Mond zog eine breite, silberne Bahn über die Wellen. Ja. Ich sah die Straße. »Wohin führt sie?«
    November lehnte sich in meinen Arm, der irgendwie den Weg um ihre Schulter gefunden hatte. »In das unentdeckte Land«, antwortete sie. »Das Land, in dem der Schmerz endet und alle T rauer verschwindet. Das Land, aus dem es keinen Weg zurück gibt.« Ich hörte die Sehnsucht in ihrer Stimme und musste ein Schaudern unterdrücken. In naher Zukunft würde ich meine Reise in so ein friedliches Land antreten müssen, und ganz ehrlich: Es zog mich nicht viel dorthin.
    Sie schwieg und blickte aufs Wasser und ich tat dasselbe. Ich hatte so viele Fragen, aber keine davon schien mir zu diesem Moment zu passen. Also begnügte ich mich damit, November an meiner Seite zu spüren, ihrem Atem zu lauschen und den feinen Duft einzuatmen, der von ihrem Haar aufstieg. Wir sahen zu, wie der Mond am schwarzen Himmel höher stieg, dabei immer kleiner und heller zu werden schien, und die Silberstraße auf dem Wasser immer schmaler und deutlicher wurde, bis es so aussah, als könnte man seinen Fuß daraufsetzen und auf ihr bis zum Horizont laufen.
    November seufzte irgendwann und drehte sich in meinem Arm, bis sie ihren Kopf an meine Schulter legen konnte. Ich hob die Hand und streichelte über ihr Haar. Vorsichtig, als wollte ich sie nicht erschrecken. Sie seufzte wieder und hob den Kopf, wandte mir ihr Gesicht zu. Und dieses Mal wusste ich, was ich zu tun hatte. Ihre Lippen waren weich und kühl und samtig und schmeckten ganz und gar süß und wunderbar, und ich vergaß für einige verzauberte Momente vollkommen, dass ich nicht viel Übung im Küssen und schon lange kein Mädchen mehr im Arm gehalten hatte.

17
    Der Mond war noch ein Stück weiter in den Zenith gewandert, als November sich aus meiner Umarmung löste und lächelnd mit gespreizten Fingern durch ihre Haare fuhr. Sie flocht die im auffrischenden Wind flatternden Strähnen geschickt zu einem dicken Zopf. »Gehen wir zurück«, sagte sie. Ich folgte ihr, während ich mein Gefühlschaos zu sortieren versuchte. Das alles glich einem wirren, wunderschönen Traum, der an jeder Ecke eine neue Überraschung für mich bereithielt. Der Keller war finster und stickig und ich musste einen kleinen Moment pausieren und Atem holen. Die modrige, dumpfe Luft drückte mir den Brustkorb zusammen. Es fühlte sich beinahe an wie Angst.
    Ich zwang mich zu einem halben Dutzend tiefer Atemzüge, dann folgte ich eilig dem langsam schwindenden Lichtschein von Novembers Lampe. Sie ging voraus, ohne meine Rufe, sie möge bitte auf mich warten, zu beachten.
    Das Gängegewirr dieses Kellerlabyrinths machte den Weg zu einer Geisterbahnstrecke. Ich stolperte über herumliegende Steine, blieb in Rissen im Boden hängen, rannte gegen unvermutet herausstehende Balken und stieß mir die Schienbeine an Gegenständen, die ich in der Dunkelheit nicht rechtzeitig gesehen h atte. Schimpfend und zunehmend unlustig humpelte ich hinter dem Lichtschein her. »November«, rief ich irgendwann nach dem fünften oder sechsten blauen Fleck, »ich kann dir nicht so schnell folgen. Bitte warte auf mich ...«
    Ich hörte, wie sie etwas antwortete, was wie »Sind schon da« klang. Es kam mir vor, als würde das Licht vor meinen Augen langsam ersterben. Der Boden des Gewölbes war bedeckt mit irgendwelchem Zeug, das unter meinen Füßen knackte, splitterte und brach. Trockene Zweige? Ich stolperte voran

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