Das Haus am Abgrund
unfreundlich. Er war unrasiert und seine Hosen waren zerknittert. Seine Hand umklammerte das Treppengeländer. »Rede schon. Was hast du vor?«
»Ich bringe November fort«, sagte ich laut. »Ihre Schwester hat mich darum gebeten. Ich glaube, dass hier Dinge vorgehen, die nicht gut für November sind. Ich bringe sie in Sicherheit.«
Er starrte mich an. Seine Augen waren groß und dunkel. »Du bist ein dummer Junge«, sagte er. »Du hast keine Ahnung, nicht die mindeste Ahnung, worum es hier geht. Wir sind an ein Versprechen gebunden. Aber das begreifst du nicht.«
Ich wandte mich ab. »Lass ihn reden«, flüsterte ich November zu und riss die Tür auf.
*
Es raschelte und flatterte über meinem Kopf, irgendwoher kam ein Luftzug, der warm war und nach Blüten duftete. Ich wusste, dass ich wieder in der Ruine stand, dass draußen Frühling war und die Nacht vor dem Neumond. Ich tastete mich an den Schuttbergen vorbei ins Freie.
Dort saß ich noch eine Weile auf der Treppe und dachte nach. Nichts von dem, was in diesem Haus geschah, schien einer Logik zu folgen, die ich verstand. November war dort, sie lebte, atmete, lachte und weinte, und ich war so voller Liebe für sie, d ass es mein Herz zu sprengen drohte. Sie lag oben in ihrem Bett und starrte mit ihren unglaublichen Augen ins Dunkle. Dachte an irgendetwas, was auf sie wartete und was ihr offensichtlich große Angst machte. Dachte vielleicht auch an mich.
Aber wenn ich jetzt hinunter ins Dorf lief, würde sie ebenso im Museum in ihrem Bett liegen und schlafen.
Ich rieb mir fest über die Schläfen. »Das ist irre«, sagte ich laut.
»Das ist nicht irre«, sagte der Roshi. »Du siehst immer nur einen Ausschnitt dessen, was die Wahrheit ist, Êdorian. Nur einen winzig kleinen Ausschnitt. Wie eine Mücke, die auf der Fingerkuppe eines Riesen sitzt. Jede einzelne Rille des Fingers ist für die Mücke ein tiefes, dunkles Tal. Irgendwo weit draußen ist die Welt zu Ende, und hinter dieser Grenze befindet sich scheinbar nichts. Aber in Wirklichkeit ...«
»Roshi, bitte!« Seine Vorlesung ging mir auf die Nerven. »Sag mir lieber, was das hier alles zu bedeuten hat.«
Er murmelte etwas auf Japanisch in seinen Bart. »Du bist frech, Êdorian«, sagte er dann. »Keinen Respekt vor dem Alter, kein bisschen. Ich fühle mich gekränkt.«
Ich sah ihn an. Er drückte das Kinn gegen seine Brust und starrte auf seine Hände nieder. Ich hatte prompt ein schlechtes Gewissen. »Es tut mir leid«, sagte ich. »Das war ein harter Tag.«
Er warf mir einen schrägen Seitenblick zu. »Du hättest das vermeiden können«, sagte er spitz.
Ich zuckte die Achseln und stand auf. »Morgen gehe ich zu Milton Skegg und bitte ihn um einen oder zwei seiner Ordner, die kann ich dann Toby zeigen. Oder ich frage Ms Vandenbourgh einfach, ob ich die Sammlung noch mal kurz ausleihen kann.
D ann glaubt Toby mir, er wird sich mit Jonathan versöhnen und alles ist wieder im Lot.«
Der Roshi runzelte die Stirn und spitzte die Lippen. »Ich wollte, ich könnte dir da zustimmen«, sagte er. »Ich wollte, ich könnte es, Êdorian.«
»Hör auf zu unken«, fuhr ich ihn an. »Du willst ja nur recht behalten. Erklär mir lieber, was mit November ist. Wovor hat ihre Schwester so große Angst? Was wird mit ihr geschehen?«
Der Roshi stand auf und richtete seinen schwarzen Kimono. »Das sind Dinge, die ich nicht weiß«, sagte er kurz. »Frag Azrael Moriarty. Oder Ms Vandenbourgh. Ich bin schließlich nur eine Halluzination.« Mit diesen Worten war er verschwunden.
24
Ich kletterte über den Mauereinbruch und ging durch den dunklen Garten. Das Laub der Magnolie rauschte laut. Im Cottage brannte kein Licht. Es war doch noch gar nicht so spät und meine Väter waren Nachteulen. Ob sie einen Ausflug ins Dorf unternommen hatten?
Ich öffnete die Tür und ging durchs Haus. Die Schlafzimmertür stand offen, ebenso die des Arbeitszimmers. »Toby?«, rief ich. »Jonathan?« Stille. Keine Antwort. Ich war allein.
Normalerweise hinterließen die beiden mir auf dem Küchentisch eine Notiz, wenn sie ausgingen, damit ich mir keine Sorgen machte. Aber der Tisch war leer bis auf einen Kaffeebecher mit eingetrocknetem Rand und ein benutztes Buttermesser. Das sah Jonty nicht ähnlich, er räumte schmutziges Geschirr immer in die Spülmaschine.
Ich wanderte unruhig durch das Cottage. Die Luft war schwer und drückend, wie vor einem Gewitter. Ich konnte die trübe, dunkle, schwere Wolke, die über dem Haus hing,
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