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Das Haus am Abgrund

Das Haus am Abgrund

Titel: Das Haus am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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beinahe mit Händen greifen. Luft. Ich brauchte frische Luft.
    Im Garten war es etwas weniger beklemmend, wenn auch immer noch gewittrig schwül. Ich tauchte in die tintige Dunkelheit u nter dem großen Baum. Ein wenig auf der Bank sitzen und nachdenken, das wäre jetzt schön. Es war kindisch, so in Panik zu verfallen, nur weil Toby und Jonathan ins Dorf gegangen waren und vergessen hatten, mir einen Zettel hinzulegen.
    Die Bank ist besetzt. Ich bleibe erschreckt stehen. Wer sitzt da mitten in der Nacht auf unserer Gartenbank? Ein großer, kräftiger Mann. Ich kenne ihn nicht. Er hat dunkles Haar, eine Stirnglatze und einen kurzen Bart. Sein Kinn liegt auf der Brust, als schliefe er. Eine seiner großen Hände liegt auf seinem gewölbten Bauch, die andere ruht auf der Bank. Neben der Hand steht ein leeres Whiskyglas aus unserem Küchenschrank – ich kenne dieses Glas, Toby hat es mal aus einem Pub mitgehen lassen, weil der »Striding Man« in seinem roten Jagdrock darauf abgebildet ist. Er tippt sich an den Hut, schwenkt den Stock und grinst.
    Wer sitzt da auf unserer Gartenbank und trinkt Tobys Whisky aus Tobys Whiskyglas?
    Die Welt ruckt wieder auf ihre Achse. Ich blinzele mehrmals verblüfft. »Jonty«, sage ich. »Warum sitzt du hier allein im Dunkeln?«
    Er knurrt leise. Öffnet die Augen und sieht mich an. Sein Gesichtsausdruck ist mir immer noch so fremd, dass ich schaudere. Er sieht mich an, wie man einen aufdringlichen Unbekannten anblickt, der einen im Pub belästigt.
    »Geh weg«, sagt er. »Lass mich in Frieden.« Er klingt nuschelig, als hätte ich ihn aus tiefem Schlaf geholt. Seine Hand tastet unbeholfen über die Bank, greift nach dem Glas. »Hau schon ab.«
    »Jonathan«, sage ich hilflos. »Ich bin es, Adrian.«
    E r hebt das Glas, zittrig, verschüttet ein paar Tropfen. Es ist randvoll. Gerade war es noch leer, wo kommt die Flüssigkeit her? Es riecht scharf, alkoholisch. Ich begreife endlich. Er ist betrunken, er ist so betrunken, wie ich noch nie zuvor jemanden erlebt habe, noch nicht mal Milton Skegg. Impulsiv beuge ich mich über ihn, will ihm das Glas abnehmen. Er schubst mich so heftig weg, dass ich rückwärts taumele und beinahe über meine eigenen Füße falle. »Hau endlich ab, du lästige Kröte«, schreit er mich an. Sein Gesicht ist dunkel vor Zorn. »Verpiss dich! Geh mir nicht ständig auf die Nerven!«
    Ich hocke keuchend auf dem Boden. Das Moos unter meinen Händen ist feucht und kühl. Mein Herz schlägt so heftig, dass mein Kopf im Takt mitwummert. Ich vertreibe die aufschießenden Tränen und sehe den Fremden auf unserer Gartenbank an. Er trinkt und stellt das Glas wieder ab. Leer. Er atmet laut aus und lehnt sich zurück. Ein langer Arm liegt um seine Schultern, eine dürre Hand krault seinen Kopf. Ich sehe den glimmenden Blick des Jokers, der Jonathan im Arm hält und ihn liebkost, an sich drückt, ihn betätschelt, während er mich über Jonathans Schulter hinweg angrinst. »Schätzchen«, säuselt er und grinst noch breiter. »Mein kleiner Liebling. Komm an mein Herz, mein süßer Bengel.« Er küsst Jonathan mit seinem klaffenden, blutigen Mund, mit den breiten, geschminkten Lippen, mit der grünen, glitzernden Zunge. Ich knie auf Händen und Füßen da wie ein angezählter Boxer, würge und wende den Blick ab. Sehe ein paar glänzend schwarze Schuhe, die reglos neben mir warten.
    Mein Blick fährt an den Beinen empor. Schwarze, penibel gebügelte Hosen. Ein schwarzer Gehrock. Farblose Augen, die mich reglos mustern. »Master Adrian?« Er beugt sich zu mir und r eicht mir die Hand, um mir aufzuhelfen. Ich nehme sie, vollkommen willenlos und ohne nachzudenken.
    Der Kontakt war kurz und heftig. Er durchfuhr mich wie ein Stromschlag, und einen Augenblick lang war alles blendend hell erleuchtet. Dann rollte ohrenbetäubender Donner über den Himmel und eine Windböe ließ das Laub heftig aufrauschen. Ich fuhr zusammen. Ein zweiter Blitz erhellte den Himmel. Ich drehte mich um, sah zu Jonathan. Er hockte zusammengesunken auf der Bank – allein. Ich hörte seinen prustenden Atem. »Komm mit«, sagte ich und schob den Arm unter seine Achseln, um ihn auf die Füße zu ziehen. Er protestierte undeutlich, ließ sich aber aufhelfen und lehnte sich schwer auf mich. »Was ist denn?«, hörte ich ihn murmeln. »Warum lässt du mich nicht einfach da sitzen?« Er sah mich mit verschwommenem Blick an, nuschelte: »Ary? Was ist?«
    Ich drückte seinen Arm und sagte: »Hilf ein bisschen

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