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Das Haus am Abgrund

Das Haus am Abgrund

Titel: Das Haus am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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seinem Geist zumuten darf.«
    Ich lachte wieder, laut und lange. Wenn er vorgehabt hatte, mich aufzumuntern, dann war ihm das gelungen. »Roshi«, sagte ich und wischte mir über die Augen, »du hast heute wohl einen Clown gefrühstückt. Du bist doch nur eine Halluzination!«
    »Wenn Sie es sagen, Master Adrian«, erwiderte er mit der Stimme des Bestattungsunternehmers. Er lächelte mich so breit an, dass sein Gesicht mich an die Grinsekatze erinnerte.
    Ich nickte nur und stand auf. »Danke«, sagte ich. »Es geht mir besser.«
    Ich ließ ihn sitzen, wo er saß, und ging zum Loch in der Mauer. Es war kein bewusster Entschluss, dass ich hinüberkletterte und auf das Herrenhaus zulief. Es war wie immer: Das Haus rief nach mir und ich folgte dem Ruf.
    Dieses Mal fröstelte ich nicht, als ich in die Schatten trat, die seine Mauern warfen. Finster und kalt war es, aber ich fühlte mich willkommen. Ich stieg die Treppe hinauf und öffnete die Tür.
    E inen winzigen Augenblick meinte ich noch, Schutt und mitten in der zerfallenden Halle wachsende Schösslinge zu sehen, dann glättete sich das Bild vor meinen Augen zu Marmorfliesen, Teppichen und geöltem Holz. Leise Musik kam aus dem Obergeschoss, es duftete nach Kerzen und Bohnerwachs.
    »Adrian«, rief Novembers honigdunkle Stimme. Sie trat durch die schmale Tür, die in die Wirtschaftsräume führte, und lief mit ausgestreckten Händen auf mich zu. »Adrian, du bist wiedergekommen! Ich bin so froh!«
    Ich konnte sie nur stumm ansehen. Sie trug ein hochgeschlossenes, weinrotes Samtkleid, in dem sie unglaublich erwachsen aussah.
    Ich räusperte mich. »Welches Jahr haben wir?«
    Sie hatte meine Hände genommen und sah mich verwirrt an. Ihre mondhellen Augen verdunkelten sich zu einem schattigen Grau. »Welches Jahr?« Sie runzelte die Stirn. »Was für eine Frage ist das? Jeder weiß, welches Jahr wir haben. Es ist ...« Sie biss sich auf die Lippe. »Es ist das Jahr, in dem ich sechzehn werde.«
    Ich folgte ihr, ohne zu fragen, wohin sie mich führte. Wir gingen die Treppe hinauf, bis zu der Tür, hinter der ich das Zimmer ihrer Schwester vermutete. Jedenfalls glaubte ich mich zu erinnern, dass wir vor dieser Tür gestanden und auf eine Antwort gewartet hatten.
    November flüsterte: »Sie will immer noch mit niemandem reden. Aber ich glaube, dass sie die Tür aufmacht, wenn ich ihr sage, dass du da bist. Sie war so gespannt darauf, dich endlich kennenzulernen.« Sie hob die Hand und klopfte sacht an die Tür. »Sam? Ich bin es. Adrian ist da.«
    Ich hörte, wie es hinter der Tür raschelte. Schritte huschten ü ber den Boden. Etwas kratzte am Türblatt, ich hörte Atmen. »Adrian?«, flüsterte eine Stimme.
    »Ja, er ist hier.« November presste die Hände gegen die Tür, als wollte sie etwas beschwören. »Mach auf, Sam. Bitte.«
    »Kommt er, um dich zu holen und fortzubringen?«
    November sah mich an. Ihr Gesicht war traurig. »Nein, Sam«, sagte sie langsam. Ihre Stimme klang so süß und weich, dass ich in ihrem Klang hätte versinken mögen wie in einem schaumigen Bad. »Nein, Sammylein. Ich kann doch nicht fort.«
    Das Atmen hinter der Tür glich einem Schluchzen. »Dann will ich ihn nicht sehen«, hörte ich die Stimme flüstern. »Dann soll er weggehen.«
    Ich beugte mich vor und legte die Stirn an das Holz der Tür. »Was soll ich tun?«, fragte ich leise. »Was möchtest du?«
    Das Mädchen schwieg. Ich hörte, dass sie ihre Nase putzte. »Bring November von hier weg«, sagte sie dann mit erstaunlich klarer Stimme. »Bring sie weg. Sie wird sonst sterben.«
    Was meinte Sam damit? Ich sah November hilflos an. Sie hatte die Arme verschränkt und blickte auf den Boden.
    Ich nahm ihren Arm und zog sie von der Tür weg. Sams Angst steckte mich an. Ich wusste nicht, was das alles zu bedeuten hatte, aber ich musste etwas tun. »Komm mit. Du kannst im Kutscherhaus übernachten.«
    Sie folgte mir widerstrebend, ich musste sie die Treppe beinahe hinuntertragen. »Ich kann nicht«, sagte sie. »Adrian, das geht doch nicht. Ich muss hier sein, wenn er kommt.«
    Wer? Ich fragte sie, aber sie antwortete nicht, schüttelte nur den Kopf.
    Wir durchquerten die Halle, sie sträubte sich immer noch, a ber nicht so stark, dass wir uns nicht langsam der Haustür näherten. Ich legte meine Hand auf die Klinke, als hinter uns eine Stimme Novembers Namen rief.
    Wir drehten uns um. Ihr Vater stand am Kopf der Treppe und sah auf uns hinunter. »Was hast du vor, Junge?«, fragte er

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