Das Haus am Abgrund
mit, Jonty. Du bist mir zu schwer zum Tragen.« Wieder ein Blitz, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Donnerschlag. Dann setzte ein sintflutartiger Regen ein. Ich war innerhalb von Sekunden nass wie eine Ratte, die ins Regenfass gefallen ist.
Jonathan japste und schüttelte sich. »Hast du das bestellt, um mich auszunüchtern?«, fragte er und klang schon wieder halbwegs wie sein altes Ich. Ich stöhnte nur und zerrte ihn zum Haus. Im Flur blieben wir stehen, tropfend, und sahen uns an, während draußen das Unwetter des Jahrhunderts über dem Cottage niederging. Der Donner rollte unablässig, Blitze zuckten über den Himmel, der Regen rauschte und platschte so laut, dass man sein eigenes Keuchen nicht hörte.
J onathan rubbelte sich kräftig über den Kopf und das Gesicht und wich meinem Blick aus. »Verdammt«, sagte er. »Verdammt, Ary, es tut mir leid.«
»Wo ist Toby?«
Er versuchte, mit seinem nassen T-Shirt sein noch nasseres Gesicht abzutrocken. »London«, sagte er. »Braucht ein paar Tage Abstand, hat er gesagt.« Ich hörte die Qual in seiner Stimme. »Ich muss mich hinlegen, Ary. Bin zu betrunken.« Er ließ die Hände sinken, erwiderte meinen Blick. »Es tut mir leid«, sagte er wieder. »Das war ein Ausrutscher. Nicht mehr. Ich verspreche es dir.«
Ich sah ihm nach, wie er die Treppe hinaufging. Mein Herz war so schwer, dass ich es wie einen Stein in meiner Brust spürte. Wir hatten uns alle eine solche Mühe gegeben, dass unser Leben ganz normal weiterging, und nun zerbrach und zerfiel es vor meinen Augen in tausend Stücke und ich konnte nichts dagegen tun.
Novembers Tagebuch
St. Irais, 1. August
P apa hat Adrian das Haus und mir den Umgang mit ihm verboten. Ich bin so unendlich traurig. Ich habe mich in mein Zimmer eingeschlossen und weigere mich, etwas zu essen.
Wir haben doch nichts Unrechtes getan. Er ist süß und höflich und zart und ganz und gar ein guter Freund. Ob ich ihn liebe? Ach, ich weiß es nicht. Ich darf es ja nicht. Aber ich habe ihn sehr gerne und ganz sicher bin ich auch verliebt in ihn.
Es ist anders als mit Cousin Jules. Ganz anders.
Er und ich ... wir sind wie die Hälften eines Apfels oder die Seiten einer Münze. Es ist, als gehörten wir einfach zueinander, und das schon immer, seit Anbeginn der Zeit.
Manchmal sitzen wir einfach nur nebeneinander an meinem Platz, sehen aufs Wasser und halten uns an den Händen. Es ist so tröstlich, jemanden wie ihn zu haben.
I n den dunklen Stunden der Nacht weiß ich, dass er da sein wird, wenn ich meinen letzten Gang antrete. Er wird neben mir stehen, ein Schwert in seiner Hand, er wird leuchten wie ein strahlender Ritter und er wird mich gegen das Dunkle verteidigen.
Er wird vor mir sterben. Aber ich hoffe, oh, ich hoffe so sehr. Warum soll es ihm nicht gelingen? Er ist jung und voller Licht. Er könnte den Dunklen besiegen und dann wäre alles gut.
25
ADRIAN
Am anderen Morgen stieß ich mein Fenster weit auf und ließ die klare, frische Luft ins Zimmer. Nach dem heftigen Gewitter glänzte der Garten wie frisch lackiert. Ich lehnte mich hinaus und ließ die Sonnenstrahlen auf mein Gesicht fallen. Die Ereignisse der Nacht erschienen nur noch wie blasse Schreckgespenster aus einem vage erinnerten Albtraum.
Im Haus regte sich nichts. Ich hörte gedämpftes Schnarchen aus Jonathans Zimmer. Er hatte offensichtlich nicht in Tobys und seinem Schlafzimmer übernachtet, sondern im Gästebett, das in seinem Arbeitszimmer stand.
Ich versuchte, meine Gefühle und Gedanken zu sortieren, und gab es schließlich auf. Das war ein einziges Durcheinander. Also ging ich in die Küche, machte mir Tee und schnitt eine Scheibe Brot ab. Dann ging ich in mein Zimmer zurück und vertiefte mich in das neue Bild, das ich von Novembers Auge malte. Es war so schwer, das Licht in der hellen Iris einzufangen.
Jeannie reichte mir den feinsten Pinsel – Rotmarder. Sauteuer. Aber damit konnte ich ganz feine, zarte Linien ziehen. Ich tupfte i hn in das Bleiweiß und strichelte damit in der Iris herum. Ich mag das weiche Bleiweiß lieber als das kalte Titanweiß. Es trocknet sehr schnell und glänzt schön ...
»Du versuchst, nicht daran zu denken«, sagte Jeannie und reinigte den schmalen Borstenpinsel, den ich gerade für das helle Blau benutzt hatte. »Du versuchst es, aber es gelingt dir nicht.«
Ich legte den Rotmarderpinsel beiseite und setzte mich auf den Hocker. »Nein. Es gelingt mir nicht.«
Ihre Miene war ungewöhnlich verständnisvoll.
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