Das Haus am Leuchtturm: Roman (German Edition)
»Schuhe.«
Meggy verzieht ihr hübsches Gesicht. »Ja, man muss Schuhe tragen. Überall liegen scharfe und harte Gegenstände herum.«
»Aber ohne Schuhe kann man viel leichter die Treppen steigen.« Die Treppe zwischen Haupt- und Zwischendeck hat Ähnlichkeit mit einer Leiter. Durch die kleinen, runden Fenster fällt Licht in den Salon. Der Esstisch aus Mahagoni, die bestickten Kissenhüllen und die Hängelampe bieten einen Anschein zivilisierter Behaglichkeit. Der ordentlich aufgeräumte Schreibtisch des Kapitäns steht unter einem Bullauge. Darauf liegen Bücher und Landkarten, obwohl es Isabella überraschen würde, wenn er tatsächlich läse, und noch mehr, wenn er angesichts der furchterregenden Mengen Whisky, die er täglich konsumiert, eine Landkarte studieren könnte. Isabella setzt sich, noch immer barfuß, neben Meggy und greift nach ihrem Stickrahmen.
»Du willst doch nicht auf einen Nagel treten«, sagt Meggy. »Das blutet viel mehr, als wenn du die Treppe hinunterfällst.« Sie spricht mit der müden Autorität eines Menschen, der viele Schiffsreisen erlebt und viele Verletzungen gesehen hat. Was auch stimmt. Denn Meggy Whiteaway ist einer der Gründe, aus denen Isabella hier ist. Meggy reist viel mit ihrem Mann, dem Kapitän, und sehnt sich nach weiblicher Gesellschaft. Das Leben auf einem Frachtschiff ist keine natürliche Umgebung für eine Frau, und Meggy hat Isabella seit Jahren bedrängt, eine Reise mit ihnen zu unternehmen. Arthur und der Kapitän sind alte Schulfreunde. Isabella hat Meggy am Tag ihrer Hochzeit kennengelernt und immer gemocht oder Mitleid mit ihr gehabt oder vielleicht auch beides.
Ein weiterer Grund, aus dem Isabella hier ist, ist natürlich der Amtsstab. Er wurde von der Königin in Auftrag gegeben, von Arthur Winterbourne entworfen, liebevoll auf britischem Boden angefertigt und soll in Sydney der neuen australischen Regierung übergeben werden, um den Zusammenschluss der Kolonien zu feiern. Arthur wollte ihn persönlich überbringen, also ist Isabella mitgekommen. Es schien besser, als in Somerset zu bleiben und seiner giftigen Familie ausgeliefert zu sein.
Doch Isabella kennt den dringendsten Grund, aus dem sie sich an Bord der Bark Aurora befindet. Sie ist hier, weil es zumindest zeitweise die Frage beantwortet, was aus Isabella werden soll, eine Frage, über die hinter vorgehaltener Hand im Empfangszimmer ihrer Schwiegermutter getuschelt wird und die sie auch in den Augen ihres Ehemannes liest. Es hat eine Zeit gegeben, in der sie sich für die ganze Sorge und Schande geschämt hätte, die sie über die Familie gebracht hat. Doch die gesellschaftliche Scham wurde völlig bedeutungslos, als sie Daniel verlor.
»Geht es dir gut, Isabella?« Meggys runde blaue Augen sind weich vor Sorge. »Du siehst sehr blass aus.«
Isabella kämpft mit den Tränen. Isabella kämpft immer mit den Tränen. Sie springt von ihrem Stuhl hoch. »Meine Schuhe«, sagt sie halb zur Erklärung und begibt sich in ihre stille Kabine.
Isabella wird früh wach. Sie liegt in ihrem schmalen Bett und denkt an die kalte Übelkeit, die nur Mütter erleben, die ein Kind verloren haben. Jeden Tag beim Aufwachen verschont sie das Gefühl für wenige Sekunden, doch dann bricht die Traurigkeit wieder über sie herein und erinnert sie daran, dass ihr Leben zerstört ist. Der Sturz von der Unwissenheit ins Wissen ist qualvoll. Sie würde lieber aufwachen und sofort traurig sein. Doch diese wenigen Sekunden verspotten sie jeden Morgen: Sie sind eine falsche Zeit, das grausame Versprechen von Glück, das nicht gehalten werden kann, so wie die fünfzehneinhalb Tage, die Daniel gelebt hat.
Doch das Leben geht weiter, und Isabella weiß, dass sie aufstehen und an Deck muss, um ihr kleines Gebet für den Ozean zu sprechen. Sie schlüpft durch die vordere Luke und sieht Meggy mit verzweifelter Miene im Freien sitzen. Das Morgenlicht fängt sich in ihrem rotgoldenen Haar. Neugierig geht Isabella näher heran und setzt sich neben sie. Arthur beklagt sich oft darüber, dass sie und Meggy »wie Kinder auf dem Schiff hocken«. Damen, so denkt er, sollten niemals woanders als auf einem Stuhl sitzen. Doch vor dem Steuerrad des Schiffes kann man wunderbar kauern, die Knie unters Kinn ziehen und sich vorstellen, man bewege sich am äußersten Rand der bekannten Welt entlang, den Sonnenschein im Haar.
Anfangs hatte Isabella noch auf Anstand und Schicklichkeit geachtet, doch je weiter sie sich von zu Hause entfernte,
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