Das Haus am Leuchtturm: Roman (German Edition)
desto schneller legte sie ihre Manieren ab. Als sie von Bristol den Avon hinuntersegelten, vorbei an den St. Vincents Rocks, trug sie noch Hut und Handschuhe. Als sie nur zwei Tage später mit heftigen Winden zu kämpfen hatten und sie nicht aufstehen konnte, ohne sich zu übergeben, entfernte sie alsbald alles, was sie daran hinderte, schnellstmöglich zur Reling zu gelangen. Nach drei Wochen hatten sie die Passatwinde erreicht, und die Schnelligkeit des Schiffes und die drückende Wärme brachten sie dazu, ihr Korsett abzulegen. Zum ersten Mal seit ihrer Kindheit konnte sie frei atmen.
»Schon so früh auf, Meggy?«
Meggy blickt zum Achterdeck, nicht zum Bug. »Konnte nicht schlafen.« Ihre Augen folgen jemandem auf dem Hauptdeck, auf der anderen Seite des Steuerrads. Isabella betrachtet sie kurz, bevor sie merkt, dass Meggy den Ersten Offizier beobachtet.
»Interessierst du dich heute Morgen für Mr. Harrow?«, fragt sie sanft und lehnt sich flüchtig an ihre Freundin.
Deren Augen kehren mit einem Zucken zu Isabella zurück. »Ist er nicht prachtvoll?«
»Prachtvoll ist vielleicht nicht das Wort, das ich verwenden würde.« Isabella dreht sich um, um ihn in Augenschein zu nehmen. Er spricht mit zwei Seeleuten weiter unten auf dem Achterdeck. Er ist ein kleiner Mann, kleiner als Isabella, doch das ist Meggy vielleicht egal, denn sie ist eine winzige Frau mit glockenförmigem Körper. Isabella trägt einen inneren Kampf aus. Sie will Meggy schützen, ist aber auch entrüstet über deren Torheit. Frauen, die mit dem doppelten Fluch von Schönheit und guter Familie geschlagen sind, entscheiden nicht selbst, wen sie lieben. »Meggy, du weißt, wie gefährlich es ist, ihn heimlich zu lieben.«
»Ich liebe ihn nicht, Isabella. Ich bewundere ihn nur so sehr. Seine Frau Mary ist letztes Jahr gestorben. Er hat sie bis zum Ende gepflegt; er war dabei, als sie ihren letzten Atemzug tat.«
»Woher weißt du das?«
»Ich habe auf unserer letzten Reise gehört, wie er Francis davon erzählt hat. Findest du es nicht wunderbar, wenn ein Mann so sehr liebt? Männer sind angeblich so stark und hart, können aber tief im Herzen ganz weich sein.«
Isabella antwortet nicht. Sie stellt sich vor, sie wäre krank und läge im Sterben. Arthur würde sich einfach fernhalten, bis es vorbei ist. Genau wie damals, als Daniel starb. Isabella sah ihn erst nach der Beerdigung, die ohne ihr Wissen stattfand. Arthur hatte befürchtet, sie könnte eine Szene machen.
»Wie furchtbar traurig für ihn, so jung Witwer zu werden«, haucht Meggy. »Welches Unglück er erleiden muss.«
Isabella schaut sie an. Tränen schimmern in den Augen ihrer Freundin. Sie spürt einen zornigen Knoten in sich. Meggy hat nicht einmal mit ihr um Daniel geweint, und ein Kind zu verlieren ist viel schlimmer, als eine Frau zu verlieren. Meggy, die nie ein eigenes Kind hatte, sagte nur: »Du wirst noch eins bekommen, und dann verwandelt sich die Traurigkeit in Sonnenschein.« Als wäre ein Kind ein zerbrochenes Teeservice, das man ohne weiteres ersetzen kann.
Dann überkommt Isabella ein teuflischer Impuls.
Sie steht auf und ruft: »Mr. Harrow!«
Meggy zieht die Knie an die Brust und erinnert Isabella an eine Spinne, die man mit dem Besen bedroht. »Isabella, nicht!«, zischt sie.
Aber es ist zu spät. Mr. Harrow wendet sich zu ihnen und winkt. Meggy steht auf, will fliehen. Isabella winkt Mr. Harrow mit einer Hand, während sie Meggy mit der anderen am Oberarm packt. Isabella ist groß, stark und königlich; Meggy kann ihr nicht entkommen. Mr. Harrow nähert sich neugierig, sein rosiges Gesicht glänzt.
»Ja, Mrs. Winterbourne?«
Meggy hat sich abgewandt, tiefrot vor Verlegenheit. Ein erstes Bedauern regt sich in Isabella, doch es ist zu spät. Ihr Mund hat die Worte schon geformt. »Mrs. Whiteaway und ich haben ein wenig geplaudert, und wie es scheint, bewundert Mrs. Whiteaway Sie sehr.«
Nun ist es an Mr. Harrow, vor Verlegenheit zu erröten, und Isabella spürt, dass der boshafte Funke, der sie zu diesem Unsinn getrieben hat, unwiderruflich erloschen ist. Die Scham kriecht über ihre Haut. Sie lässt Meggy los, die an ihnen vorbeiläuft und schluchzend in der Luke verschwindet. Mr. Harrow schaut ihr nach und wendet sich zu Isabella. Sie kann seine Miene nicht deuten. Ist er wütend? Verwirrt? Oder auch in Meggy verliebt?
Natürlich ist er das. Sie reisen gemeinsam um die Welt, und es heißt immer »Mrs. Whiteaway« dies und »Mr. Harrow« das, und sie
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