Das Haus am Leuchtturm: Roman (German Edition)
werden. Eine Zeitlang sah sie zu, wie die Blitze über den Himmel zuckten und der Wind die Bäume in alle Richtungen bog. Dann schaute sie zum Leuchtturm hinüber.
In einem der Fenster flackerte ein schwaches Licht. Libby blinzelte angestrengt, weil sie ihren Augen nicht traute. Der Leuchtturm stand ganz sicher leer. Und doch war da Kerzenlicht. Wer mochte um diese Uhrzeit mit einer Kerze in dem alten Gebäude sein? In ihrem Bauch kribbelte es, als ihr einfiel, wie unheimlich sie den Leuchtturm als Kind gefunden hatte. Pirate Pete warf einen langen Schatten.
Aber nein, die Müdigkeit und das Gewitter hatten sie nervös gemacht. Sie kehrte ins Bett zurück, trat die Decke beiseite und versuchte, nackt in der stickigen Wärme zu schlafen, was ihr allerdings mehr schlecht als recht gelang, denn sie träumte von flackernden Lichtern in Fenstern und einem kalten Ozean, der wie ein Ungeheuer brüllte.
Vier
1901
I sabella kann nur dem Meer vertrauen. Sie hat keinen Boden unter den Füßen, daher krallt sie die Zehen vorsichtig in die Planken des Decks, während sie die gewaltigen Wellen unter sich dahinrollen sieht. Die Sonne scheint hell, und der Wind lässt die Segel flattern und die Klemmen rasseln. Still fleht sie den Ozean an: Bewahre uns, denn wir sind keine Fische; wir sind Männer und Frauen und weit entfernt vom Land. Bei jedem Wetter kommt sie morgens nach draußen und spricht ihr kleines Gebet. Bisher sind sie sicher gewesen. Und während ihr Verstand ihr sagt, dass nicht das Gebet dafür verantwortlich ist, vermutet sie es dennoch in einem abergläubischen Winkel ihres Herzens.
»Stellst du dich wieder zur Schau, Isabella?«
Isabella dreht sich um. Ihr Mann Arthur steht nur wenige Schritte entfernt vor dem Deckshaus. Er hat die Arme verschränkt und die Stirn unter dem dünnen, hellen Haar gerunzelt. Sein üblicher Gesichtsausdruck, jedenfalls ihr gegenüber.
»Du brauchst dich nicht zu ärgern«, sagt sie, gewiss ein wenig zu kühn für seinen Geschmack, »niemand kann mich hören.«
»Alle wissen, dass du hier stehst, die Lippen bewegst und mit dem Himmel redest.«
»Eigentlich rede ich mit dem Meer«, erwidert sie und geht zur Treppe.
»Schuhe, Isabella. Wo sind deine Schuhe?«
Heute sind es also die Schuhe. Gestern war es das offene Haar. Vorgestern waren es die Handschuhe. Handschuhe! Warum besteht er darauf, dass sie sich wie zum Nachmittagstee kleidet, wenn sie einfach nur an Deck frische Luft und Sonnenschein genießen will? Gewiss interessiert sich auf diesem elenden Schiff niemand dafür, was sie anhat. »Meine Schuhe sind in unserer Kabine, Arthur.«
»Hol sie. Zieh sie an. Ich kann es ertragen, dass du ohne Hut und Handschuhe gehst, aber Schuhe sind eine Notwendigkeit.« Er senkt wie so oft den Blick zu dem schwarzen Band, das sie ums Handgelenk trägt. Seine gewöhnlich frische Gesichtsfarbe vertieft sich zu einem dunklen Rot.
Sie zieht den Ärmel darüber. Heute will sie nicht deswegen streiten. Warum bestehst du darauf, diesen alten Fetzen zu tragen? Die Winterbournes sind weltberühmte Juweliere, und du hast ein Band aus Stoff am Arm? Du trägst nicht einmal deinen Ehering. Sie will ihm nicht noch einmal sagen, dass er ihr nicht passt, denn sie vermutet, dass er ihn absichtlich so eng gemacht hat, damit ihre Hand in der Falle sitzt.
Er schüttelt leicht den Kopf. »Kümmere dich um dein Aussehen, Isabella. Denk an den guten Ruf des Namens Winterbourne.«
»Na schön, Arthur.« Sie interessiert sich überhaupt nicht für den Namen Winterbourne und kaum mehr für ihren Ehemann. Früher war sie genau wie andere Frauen; früher hatte sie ein weiches Herz. Doch die Zeit und der Kummer haben ihre Gefälligkeit zerstört, haben sie ausgehöhlt, bis kaum noch etwas davon übrig ist. Sie geht unter Deck, denkt aber nur halbherzig an ihre Schuhe und bleibt zögernd vor dem Salon stehen. Von hier aus kann sie zum dunklen Ende des Schiffes blicken, einem Ort, der so erfüllt ist von der eingefangenen Düsternis und dem Geruch ungewaschener Männer, dass sie kaum atmen kann. Die Mannschaft besteht aus siebzehn Leuten, und selbst nach acht Wochen auf See kennt sie nur den Namen des Kapitäns und des Ersten Offiziers. Sie ist gleichzeitig verängstigt und gefesselt von ihrer rauhen Männlichkeit. Meggy, die im Salon sitzt und strickt, ruft nach ihr.
Isabella dreht sich um und lächelt ihrer Freundin zu. Ein Schiff ist kein Ort für eine Frau, für zwei Frauen ist es immerhin erträglich.
Weitere Kostenlose Bücher