Das Haus am Nonnengraben
er nicht schon vor Tanja dort war und dann noch mal zurückgekommen ist, dann ist er aus dem Schneider, der Herr Schneider. Jedenfalls für den Mord an Frau Rothammer. Da ist die Jagd also jetzt wieder offen. Hast du irgendeine Spur?«
»Eine Spur nicht, aber etwas, das mich stutzig macht. Ich habe mit Frau Kurt telefoniert. Sie wusste von einem Herrn Dechant aus München von Karla Schneiders Tod. Er hat sie nach der Beerdigung angerufen, weil er sich wunderte, dass sie nicht dort war. Herr Dechant ist Joschis Vermieter, der so auffallenderweise auf der Beerdigung von Karla Schneider aufgetaucht ist. Und, so sagt Frau Kurt, er ist der Mann, der Karla einmal heiraten wollte.«
»Tja«, machte Benno, »das ist allerdings ein seltsames Zusammentreffen. Es sieht so aus, als müssten wir diesen Herrn einmal etwas genauer unter die Lupe nehmen. Weißt du was? Ich fahre am Montag sowieso nach München; ich bin ins Justizministerium bestellt. Danach werde ich bei diesem Herrn Dechant vorbeischauen und hören, was er über die Rothammers und seinen Mieter Joschi Schneider weiß.« Ganz tief im schwarzen Untergrund seiner Seele fühlte Benno eine kleine Befriedigung darüber, dass er jetzt einmal eine Spur verfolgte, auf der Hanna noch nicht unterwegs gewesen war. Er würde ihr nichts davon erzählen.
27
Die Hände des alten Mannes lagen vor ihm auf dem Tisch, als gehörten sie nicht zu ihm, wie zwei eigenständige Lebewesen, bereit, sich davonzumachen. Sie schlossen und öffneten sich krampfhaft, seit Benno ihn nach Karla Schneider gefragt hatte.
»Wie gut haben Sie Frau Schneider gekannt, Herr Dechant?«
»Wie gut ich Karla gekannt habe?« Er stieß ein bitteres, schnaubendes Lachen aus. »Sehr gut habe ich sie gekannt. Sehr gut. Man könnte sagen, sie war die große Liebe meines Lebens, ja, das könnte man. Der Stern an meinem Himmel. Lebendig war ich nur in ihrer Nähe. Das sagt sich so einfach, und es tut so weh. So viele Jahre, so viele Jahre …« Die dicken, pilzigen Fingernägel bohrten sich in seine Handflächen.
»Wie haben Sie Frau Schneider denn kennengelernt?«
»Rothammer, Karla Rothammer.« Anton Dechant fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Wie ich Karla kennengelernt habe?« Er atmete in einem langen Atemzug aus. »Ich werde Ihnen die Geschichte erzählen – Karlas Geschichte, meine Geschichte. Sie wartet schon viel zu lange darauf, ans Licht zu kommen. Tag und Nacht erzählt sie sich in mir. Immer wieder sehe ich diese oder jene Szene, immer wieder stelle ich mir die Frage ›Was wäre geschehen, wenn …‹ Immer wieder, immer wieder. Wenn ich es recht bedenke – ich wusste eigentlich, dass ich sie eines Tages erzählen werde. Ich war mir sicher, dass ihr mich irgendwann finden würdet.« Er schaute Benno gerade in die Augen. »Und es ist recht so.«
Die Hände legten sich mit den Handflächen nach unten ruhig auf den Tisch und verschränkten sich erst wieder, als Herr Dechant zu sprechen begann: »Ich war ein Freund von Karlas Bruder, Arthur. Wir haben zusammen Tennis gespielt, Doppel, meine Schwester Christine und Arthur und Karla und ich. Dann haben die Rothammers uns zu sich eingeladen, ins Haus am Nonnengraben. Das war für uns eine ganz neue Welt. Dieses Haus, so kultiviert, so elegant, mit seinen Bildern und Teppichen und alten Möbeln. Wir kamen aus einem sehr katholischen Elternhaus, wo jeder Luxus als Sünde angesehen wurde. Tennis spielen durften wir auch nur deswegen, weil meine Mutter hoffte, dass Christine sich dabei einen reichen Mann angeln könnte. Und ich musste auf sie aufpassen. Aber bei den Rothammers war alles ganz anders. So frei. So großzügig. So extravagant. Jedes Stück im Haus war ausgesucht und schön. Dieses Haus war mein Traum.« Der alte Mann schwieg.
»Und Karla?«
»Ich habe mich auf den ersten Blick in Karla verliebt, obwohl sie ein ganzes Stück jünger war als ich. Aber Karla war fast zeitlos. Schon als junges Mädchen wirkte sie wie eine Fürstin, so stolz, so souverän. Es war wie ein Geschenk, wenn sie einen beachtete. Ja, sie schenkte Beachtung, im wahrsten Sinn des Wortes. Und mir schenkte sie mehr Beachtung als anderen. Ich war viel mit ihrem Bruder zusammen. Wir verstanden uns gut, hatten viele gemeinsame Interessen. Wir sahen uns sogar ähnlich, ich wurde oft für seinen älteren Bruder gehalten. Allmählich unternahmen wir immer mehr gemeinsam, meine Schwester, die Rothammers und ich. Es war die schönste Zeit meines Lebens, ja, das war sie.
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