Das Haus am Nonnengraben
Botschaft verstehen, bald, aber sie war so müde. Nein, nein, nicht schlafen, sie musste nachdenken. Das konnte sie doch: analysieren, Fakten voneinander trennen, sie einzeln befragen und aus den Erkenntnissen ein neues Netz knüpfen. Wenn ihr doch bloß der Hals nicht so wehtäte. Wenn doch bloß die Schleier aus ihrem Kopf verschwänden. Wenn doch … Hanna sank langsam in den Schlaf zurück. Sie sah einen Reißverschluss, einen kleinen schwarzen Reißverschluss. Dann nichts mehr.
Mit feuchten Händen schrak sie aus dem Schlaf hoch. An ihrem Bett saß Tante Kunigunde und schaute sie aus verweinten Augen liebevoll an. »Was machst du nur für Sachen, Kindchen? Die Polizistin hat mir alles erzählt.« Sie nahm Hannas Hand.
»Gott, Tante Kunigunde, es tut mir so leid …«, flüsterte Hanna. »Herr Ernst. Wenn ich nicht zu ihm gegangen wäre …«
»Ach, Unsinn! Was soll ich da erst mit meinem verdammten Eierlikör sagen …« Tante Kunigundes raue Stimme kam kaum an dem riesigen Knoten in ihrer Kehle vorbei.
Hanna lächelte mitleidig und schloss die Augen wieder. Sie fasste Tante Kunigundes Hand fester. »Wie hast du es denn erfahren?«
»Ich bin heute früh zum Bäcker gegangen, und da stand die Gundi Dütsch, die alte Bedienung aus dem Sternla, an der Theke und hat der Bäckerin schluchzend die Geschichte erzählt.« Tante Kunigunde ahmte die Stimme der Kellnerin nach, und es schien ihr Erleichterung zu bringen, deren Bericht Wort für Wort wiederzugeben. »›Seit dem Tod vo seiner Fraa‹, sagte sie, ›is er jeden Ohmd zu uns kumma, und noch nie hot er mehr getrunkn wie a klaans Bier. Und gestern Ohmd hot er fast an ganzn Bocksbeutel ghobt. Und nochm Essen hot er sich a Schnapsglas bestellt und hot sich aus seiner mitgebrachtn Flaschn eigschenkt, aa Gläsla und nuch aans und nuch aans. Die Aung hot er zugemacht dabei, und gelächelt hot er wie der Engel in Dom. Seelich, richtig seelich.‹ Ich fing schon an, ungeduldig zu werden und wollte fragen, ob ich vielleicht auch einmal bedient würde, aber da sagte die Gundi ›Un nocher hot er zwanzich Euro aufn Tisch gelecht – zwanzich Euro, wo sei Essen doch bloß elf Euro achtzich gekost hot – un hot sei Eierlikörflaschn genumma und is fort.‹ Als ich das Wort Eierlikör hörte, war mir plötzlich klar, von wem sie sprach. Mir wurde ganz schwarz vor den Augen. Gott sei Dank haben die in der Bäckerei vor einiger Zeit einen kleinen Tisch und zwei Stühle aufgestellt, sodass ich mich setzen konnte. Den Rest der Erzählung habe ich kaum noch verstanden. Er ist wohl mit seiner Eierlikörflasche im Arm auf die Straße gelaufen, direkt in ein Auto. Die Gundi ist ihm noch nachgesprungen, weil er seinen Hut vergessen hatte, und hat hinter ihm hergerufen, aber da war es schon zu spät. Sie meinte, sein Genick sei vielleicht gebrochen gewesen, denn von außen habe man keine Verletzungen sehen können. ›Er hot ganz friedlich ausgseng‹, hat sie gesagt, ›immer noch mit seim Lächeln, und sei Eierlikörflaschn hot er im Arm ghabt wie a Baby.‹ Die Fahrerin des Wagens, eine junge Krankenschwester, ist gleich aus dem Auto gesprungen und hat Wiederbelebungsversuche gemacht, aber es war zu spät.«
Hanna richtete sich auf und nahm Tante Kunigunde in den Arm. Das gemeinsame Weinen tat gut. Schließlich gab sich Tante Kunigunde einen Ruck. »Ich werde uns jetzt Frühstück machen. Die Frau Kröner kann ein paar Brötchen holen. Eine nette Frau übrigens. Ich glaube, ich kannte ihren Onkel.« Tante Kunigunde war offenbar auf dem Weg der Besserung. »Tanja wird auch gleich da sein. Ich habe ihr einen Zettel an die Tür gepinnt.«
Hanna fühlte sich allmählich etwas stärker. Wenn nur diese Unruhe nicht gewesen wäre, dieses nagende Gefühl, wie wenn man in einem leeren Haus jemanden an eine entfernte Tür klopfen hört und weiß, dass der Fremde eine böse Nachricht bringt. Hanna zog sich ihren Bademantel über und tastete sich die Treppe hinunter. Es klingelte; Tanja kam mit Will.
Tante Kunigunde hatte in Hannas großem Wohnraum den Tisch gedeckt. Eine dicke Kerze brannte gegen die zunehmende Nieseligkeit draußen an und beleuchtete bunte Papierservietten. Die frischen Brötchen dufteten nach Morgen. Frau Kröner bedankte sich bereits zum dritten Mal für die Einladung zum Frühstück. Tante Kunigunde nahm Will auf den Schoß, der begeistert versuchte, ihr Haare auszureißen. »Also, alles in Ordnung!«, stellte sie befriedigt fest. »Hab ich mir doch gleich
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