Das Haus am Nonnengraben
Handynummer?«
»Ja, klar. Warte mal, ich muss erst mein Handy einschalten; auswendig kann ich sie noch nicht. Sekunde! Was ist denn so Dringendes? Du klingst ja ganz außer dir!«
»Erzähle ich dir später! Bitte, sag schon!«
»Ist ja gut! Aber du wirst ihn nicht erreichen, der ist gerade beim Zahnarzt. Da schaltet er sein Handy aus, um in seinem Dulden nicht gestört zu werden.«
Hanna versuchte es nochmals bei der Staatsanwaltschaft. Die Richter und Staatsanwälte hatten zwar keine persönlichen Sekretärinnen mehr; die Arbeiten wurden in sogenannten Geschäftstellen zusammengefasst. Aber vielleicht wusste man dort ja, wo Benno hingegangen war. Und welch ein Wunder, sie bekam direkt Frau Oehm ans Telefon.
Frau Oehm war intelligent, kompetent und von schneller Auffassung. Und sie kannte Hanna von einer ihrer Kellerführungen.
»Guten Tag, Frau Doktor«, sagte sie, als Hanna sich meldete. »Wie geht es Ihnen?«
»Im Moment eilig. Ich muss unbedingt wissen, wohin Herr Berg gegangen ist. Wen könnte ich da fragen?«
»Mich«, sagte Frau Oehm. »Er hat sich bei mir abgemeldet. Er wollte zunächst zu einer Vernehmung ins Krankenhaus und dann ins Hotel Nepomuk.«
»Weshalb wollte er denn ins Hotel Nepomuk?«
»Ich habe heute früh für Herrn Berg ein Gespräch mit einem Dr. Schneider in München vermittelt. Dessen Sprechstundenhilfe sagte mir, dass ihr Chef nach Bamberg gefahren und im Hotel Nepomuk abgestiegen ist, Zimmer 102. Ich glaube, Herr Berg wollte dort mit ihm sprechen.«
Wenn doch nur Frau Kröner nicht weggegangen wäre, wenn doch nur ihre Ablösung schon da wäre, wenn ihr doch nur nicht so furchtbar schwindelig wäre! Hanna zog sich an, schnappte sich ihren Regenumhang und eine Sonnenbrille, damit sie unterwegs nicht wegen ihrer roten Augen angesprochen wurde, schlich sich heimlich aus dem Haus – denn sie wusste genau, was Tante Kunigunde zu ihrem Plan sagen würde –, schnappte sich ihr Fahrrad und radelte zum Hotel Nepomuk. Hoffentlich, hoffentlich, hoffentlich kam sie rechtzeitig! Sie strampelte gegen den Wind. Auf der Unteren Brücke versperrte ihr eine Reisegruppe den Weg, an der Schranne parkten die Autos dicht an dicht, sodass sie einen Umweg fahren musste, in der Schimmelsgasse kam ihr ein Lieferwagen entgegen, der beinahe die Hauswände streifte, sodass sie absteigen und zurückgehen musste, um in einer Hofeinfahrt zu warten, bis er vorbei war. Es war wie ein Albtraum.
Die Hotelhalle war leer, auch die Rezeption war nicht besetzt. Erst als sie vor Zimmer 102 stand, überlegte sie, was sie denn nun tun sollte. Klopfen und hineingehen? Wenn Benno aber noch nicht da war? Sie hatte gerade beschlossen, zur Rezeption zurückzugehen und zu fragen, da öffnete sich die Tür.
»Oh, ich wollte gerade Zigaretten holen, aber das ist viel besser. Dass das Schicksal mir am frühen Morgen solch ein Glück beschert!« Hanna starrte Joschi entsetzt an. Vor Schreck blieb sie stocksteif stehen. Joschi packte Hanna am Arm und zerrte sie ins Zimmer. Er stieß sie zu Boden, und sie wünschte sich ebenso verzweifelt wie vergeblich, ihre Karatekenntnisse nicht so vernachlässigt zu haben. Sie wehrte sich völlig umsonst. Mit seinem Bademantelgürtel fesselte er ihre Hände und erstickte ihre Hilferufe mit einem Paar Socken, die er ihr in den Mund stopfte und mit seinem Seidenschal festband. Dann riss er sie auf die Beine, schubste sie vor sich her ins Badezimmer, schob sie in die Duschkabine und band ihre verschnürten Hände an der Stange der Brause fest.
»Diesmal entkommst du mir nicht, du Hexe«, murmelte er. »Alles hast du verdorben. Es ist nicht gut, mich so wütend zu machen, gar nicht gut, sag ich dir.« Joschi roch intensiv nach Alkohol und sah seltsam aus, völlig verquollen, fast, als hätte er geweint. Er war eindeutig schwer betrunken und fixierte sie aus schmalen Augen. Als Hanna dachte, sie könne diesen Blick nicht länger ertragen, verließ er das Bad. Sie blieb allein mit dem Rauschen des Flusses, das durch das kleine Fenster hineindrängte und sich zwischen den Kacheln fing.
Doch ihre Erleichterung währte nur Sekunden, denn Joschi kam sofort wieder. Auf seinem Gesicht lag ein eigenartiges Lächeln. Die Kuppe seines rechten Daumens strich zärtlich über die Schneide eines aufgeklappten Messers, querte sie, hin und her, vorsichtig hin und her. Hanna glaubte, das Geräusch zu hören, ein zartes Zischen, wie eine Schlange, die durchs Gras gleitet.
Hannas Angst gerann im Getöse des
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