Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Haus am Nonnengraben

Titel: Das Haus am Nonnengraben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Degen
Vom Netzwerk:
Flusses. Würde sie das je wieder können, einen Fluss rauschen hören, ohne gleichzeitig mit jedem Nerv das winzige Schaben des Daumens über das Messer zu vernehmen? Dieses sanfte Geräusch, wieder und wieder.
    Joschi lehnte am Rahmen der Badezimmertür; offenbar konnte er kaum noch stehen. »Warum hast du mich sitzen lassen? Weißt du, wie weh das getan hat?« Plötzlich hörte er sich an wie ein beleidigtes Kind. »Seit langer Zeit warst du die Erste … ich habe gewartet und gewartet, und du bist einfach nicht wiedergekommen. Das Büfett habe ich mir eigentlich gar nicht leisten können. Und dann gehst du einfach weg. Aber das lasse ich mir nicht gefallen.«
    Joschi lachte bitter auf. »Ein echter Rothammer lässt sich so etwas nicht gefallen. Ein echter Rothammer doch nicht. Schau ihn dir an. Ein reinrassiger Rothammer!« Stöhnend wandte er sich zum Waschbecken um, stützte sich schwer auf den Rand und starrte in den Spiegel. »Wie konntest du mir das antun? Mit deinem Bruder, mit deinem eigenen Bruder! Hast du denn nicht an mich gedacht, wie sich das anfühlt, so ein Kind zu sein? Gott im Himmel, wie hast du mir das antun können?«
    Hanna verstand sein verwaschenes, trunkenes Gemurmel nur mit Mühe. Doch dann begriff sie: Joschi hatte in der vergangenen Nacht die Briefe seiner Mutter gelesen! Kürtchens Schachtel mit den Briefen hatte auf ihrem Schreibtisch gestanden, wo er sie entdeckt haben musste auf der Suche nach dem verräterischen Dokument, das sie bei ihm mitgenommen hatte. Das also waren die Papierhaufen auf dem Tisch gewesen, die Blätter auf dem Boden. Und das war der Grund, warum Joschi so aufgelöst war: Er glaubte, das Kind von Arthur und Karla zu sein, von Bruder und Schwester. Eiskalter Schweiß lief Hanna den Rücken hinunter. Sie überlegte verzweifelt – gab es so etwas wie Übertragung? Würde er jetzt anstelle seiner Mutter sie leiden lassen? Er hatte gesagt, sie würde ihn an Karla erinnern. Was sollte sie nur tun? Wenn sie ihm doch nur Bescheid sagen könnte! Aber wegen des Knebels in ihrem Mund konnte sie nur unartikuliert stöhnen.
    Joschi drehte sich um und kam einen Schritt auf sie zu. Er sah sie an, als versuchte er mühsam über etwas nachzudenken. Sein Daumen begann wieder das nervenzermürbende Spiel mit der Messerschneide – fff, fff. Doch plötzlich war da noch ein anderes Geräusch. Es klopfte. Der Daumen erstarrte. Es klopfte wieder, energischer diesmal. Hanna konnte die Tür jenseits von Bad und Zimmer sehen; sie schien weit weg. Sie hörte eine Stimme etwas rufen, fragend, konnte aber die Worte nicht verstehen. Sekunden verstrichen. Joschi beobachtete die Tür wie ein Tier auf der Flucht. Als die Klinke sich bewegte, warf er das Messer ins Waschbecken, rief: »Einen Augenblick noch!« und ging ins Zimmer. Die Badezimmertür schloss er von außen zu.
    Hanna versuchte verzweifelt, etwas von dem mitzubekommen, was im Hotelzimmer geschah. Doch außer einem unverständlichen Gemurmel drang nichts durch die massive Badezimmertür. Wie konnte sie Joschis ahnungslosen Gast nur auf sich aufmerksam machen? Sie trat so mit dem Fuß gegen die Seitenwand der Duschkabine, dass ihr Schuh mit der Kante auf das Plexiglas traf. Es gab ein hallendes Geräusch, das in ihren Ohren sehr laut klang. Hatte Schneiders Gast sie gehört?

24
    Wie der Himmel trübte sich Bennos Stimmung immer mehr ein. Die Temperatur war in der letzten Stunde um mehrere Grad gefallen, und die spinnwebdurchwirkte Wärme des Altweibersommers schien viel weiter entfernt als einen Tag. Benno bohrte die Fäuste in die Jackentaschen, fröstelnd und mürrisch. Nichts ging voran. Die Vernehmung der Krankenschwester hatte überhaupt nichts gebracht. Die war wirklich unschuldig wie ein Kinderpopo, wenn sie nicht eine besonders begabte Schauspielerin war. Von dem Simanc’schen Firmenarchiv waren, nach dem Bericht des Einsatzleiters, nur unbrauchbare Reste übrig, und er hatte keinerlei Berechtigung, Bolz zu fragen, was er denn bei Simanc getan hatte. Hanna war fast zu Tode gekommen, Herr Ernst war tot, und er, Benno, fühlte sich wie im Irrgarten. Welchen Weg er auch wählte, er endete an einer Wand. Er wollte jetzt endlich einmal vorankommen. Deswegen machte er sich gleich von der Schranne aus, wo er aus dem Bus gestiegen war, auf den Weg zum Hotel Nepomuk.
    Inzwischen nieselte es ziemlich heftig. Benno schlug den Jackenkragen hoch, schob die Hände in die Taschen und rannte mit hochgezogenen Schultern los. Die kleine enge

Weitere Kostenlose Bücher