Das Haus an der Klippe
für niemanden. Blut, Eingeweide, Schmerz, Verzweiflung, alles war da. Keiner warf sich freudig dem Tod in die Arme. Diese Helden beschränkten ihr Heldentum auf das Leben. Wenn es ans Sterben ging, dann wandten sie sich oft genug um und rannten davon, sie schrien, sie erniedrigten sich und bettelten um Gnade, sie versuchten es mit Bestechung und Gebeten. Während im Epos sonst jeder, der nur zögerlich dem Feind entgegenzieht, schlecht wegkommt, wird nie jemand dafür getadelt, wenn er alles tut, um dem Tod auf dem Schlachtfeld zu entrinnen.
Wenn Hektor sich umdrehen und weglaufen konnte, als er Achilles heranwüten sah, warum sollte ich dann nicht den tapferen kleinen Soldaten Novello zurücklassen und mich retten? Denn wenn diese Männer wirklich dazu imstande sind, eine aus der Gruppe zu töten, weil ich weggelaufen bin, dann sind sie auch fähig, uns alle umzubringen, wenn sie erst einmal haben, was sie suchen.
Während ihr diese Gedanken gleichzeitig durch den Kopf schossen, die historischen, literarischen und praktischen Überlegungen alle durcheinander, sah sie sich nach der günstigsten Fluchtrichtung um. Doch egal, in welche Richtung sie gerannt wäre, außer vorwärts, sie hätte überall etliche Meter offenes Gelände zu durchqueren gehabt, was dem großen, und dem kleinen Ajax alle Zeit der Welt gegeben hätte, sie abzuknallen. Nur das Gebüsch hätte ihr unmittelbaren Schutz geboten, aber das lag jenseits des Zaunes, und dazu hätte sie direkt an den beiden Latinos vorbeirennen müssen, was auch nicht sehr sinnvoll schien. Während sie immer noch überlegte, ob es gesunder Menschenverstand oder noch gesündere Angst waren, die sie an Flucht denken ließen, blickte sie sehnsüchtig auf den Dschungel aus Rhododendron, den der immer stärker auffrischende Wind in einen einzigen wogenden Strudel aus Zweigen, Blättern und zerrupften Blüten verwandelte. Es war geradezu ein Wunder, daß sich nicht alles in die Lüfte erhob und in die weite Leere gewirbelt wurde, wie im
Zauberer von Oz.
Außer einem kleinen hellen Punkt direkt vor ihr, der sich nicht bewegte, mal sichtbar wurde und dann wieder verdeckt war, je nachdem, wie sich der tanzende Schleier des Buschwerks hin- und herbewegte.
Angestrengt starrte sie in die Richtung. Und da sah sie Rosie dort kauern, sie blickte direkt zu ihr herüber, einen Arm um Tig, den anderen fest um Carla geschlungen.
Oh, Scheiße! dachte sie. Was nun? Hinrennen und sie hervorholen? Oder darauf hoffen, daß die anderen sie nicht bemerkten? Aber das würde nicht ausbleiben, wenn sie weitergingen, denn Rosies Versteck lag genau auf ihrem Weg.
Und selbst wenn sie es irgendwie schaffte, ungesehen zu bleiben, wie lange konnte sie die Hunde zurückhalten, besonders Carla, die doch bestimmt keinen Augenblick zögern würde, ihrem Frauchen entgegenzuspringen …
Halt! Stop!
Deshalb hatte Feenie sie so angeschrien. Auch sie hatte das verborgene Trio ausgemacht und sofort erkannt, daß die größte Gefahr von ihrem eigenen Hund ausging. Sie hatte auch gemerkt, daß sie nur noch wenige Schritte vom Versteck des Mädchens trennten, und deshalb hatte sie am Zaun haltgemacht. Und dann hatte sie Rosie noch wissen lassen, was mit Novello passiert war.
Das war klug überlegt. Rosie hatte sich vermutlich instinktiv versteckt, damit niemand entdeckte, daß sie trotz des Verbots durch den Zaun geschlüpft war. Aber jetzt wußte sie auch, daß etwas nicht in Ordnung war.
»So«, sagte Popeye und legte die durchschnittenen Enden des Plastikzauns auf den Boden. »Vorwärts.«
Sie schritten weiter voran.
Ellie schien es, als gingen sie direkt auf die Stelle zu, wo ihre Tochter sich versteckt hielt. Wieder sah sie vor ihrem geistigen Auge Rosie eine unerwartete Bewegung machen und Jorge losballern. Aber Feenie ging vorneweg. Sie hatte Zutrauen in Feenie. Sie traten ins Dickicht und schritten auf einem alten, überwucherten Pfad voran. Ellie konnte es sich nicht verkneifen, zur Seite zu schielen, wo die drei gekauert hatten. Nichts zu sehen, weder Mensch noch Hund. Sie stieß die Luft aus, die sie unbewußt angehalten hatte, und spürte, wie ihr Mund sich zu einem breiten Lächeln verzog, was Popeye, der gerade zu ihr hinsah, nicht entging. Es schien ihn zu verwundern, daß sie so guter Laune war. Sie achtete nicht darauf. Mit jedem Schritt, den sie sich von der Stelle entfernten, fühlte sie sich leichter. Ob Rosie ihnen Hilfe bringen würde, sofern sie das überhaupt konnte, wußte sie
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