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Das Haus an der Klippe

Das Haus an der Klippe

Titel: Das Haus an der Klippe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reginald Hill
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sich. Daphne legte Shirleys rechten Arm über ihre Schulter und trug so das meiste Gewicht, während Ellie sie von links stützte und sich alle Mühe gab, ihre verwundete Schulter nicht zu drücken.
    »Du, wohin willst du?« fragte Jorge.
    Wendy Woolley hatte sich in Richtung Marmorbank bewegt. »Ich wollte nur meine Handtasche holen«, sagte sie ängstlich. Auftritt Edith Evans, dachte Ellie. Selbst in einer solchen Situation kann die blöde Kuh keinen Schritt ohne ihre Handtasche tun!
    »Laß sie liegen«, befahl Jorge.
    Einen Augenblick lang schien es, als hätte Wendy mehr Angst vor einem gesellschaftlichen Fauxpas als vor einer Pistole.
    Dann sagte Feenie: »Um Gottes willen, vergessen Sie Ihr kostbares Handtäschchen. Wenn Sie sich unbedingt an was festhalten müssen, nehmen Sie das da!«
    Sie drückte Wendy den Verbandskasten in die Arme. Folgsam, doch nicht ohne einen letzten sehnsüchtigen Blick auf ihre große, unmodische Handtasche reihte sich Wendy hinter Novello und deren beiden Helferinnen ein, auf der einen Seite flankiert vom großen und kleinen Ajax, auf der anderen von Jorge und Luis.
    »Nur für den Fall, daß jemand das Drehbuch nicht gelesen hat«, sagte Popeye, der als letzter ging. »Falls eine von euch versuchen sollte abzuhauen und einen Schuß hört, braucht sie sich nicht zu ducken. Er gilt nicht ihr, er pustet bloß ein Loch in eine ihrer Freundinnen, die sie zurückläßt. Auf geht’s.«
    An einem Sommerabend war es um diese Zeit normalerweise noch ziemlich hell, aber die schweren, dunklen Wolken, deren Farben von Braunrot über Graublau bis zu einem schmutzigen Schwarz reichten, hatten inzwischen das letzte Himmelsblau verschlungen. Kaum hatten sie den hellerleuchteten Bereich vor den Fenstern des Hauses verlassen, tauchten sie in eine erschreckend dämmrige Welt ein, die noch weniger mit England zu tun haben schien, als das für Axness ohnehin galt. Auch dies war einst einer der dunklen Orte der Erde, dachte Ellie. Und könnte es wieder werden. Was wollten diese Männer bloß? Und wo um alles in der Welt war Rosie?
    Beides sinnlose und beängstigende Überlegungen. Sie konzentrierte sich auf den Boden zu ihren Füßen und versuchte, für die Verletzte den ebensten Weg zu wählen. Vorneweg hatte Feenie bereits die Sicherheitsabsperrung erreicht. »Halt! Stop!« rief sie in lautem Kommandoton. Was glaubt sie, was wir sind? Etwa Hunde? dachte Ellie, als der kleine Zug zum Stehen kam.
    Der Zaun war kein Problem für einen normalen Erwachsenen, der ihn entweder überklettern oder sich unter ihm hindurchducken konnte, aber als Jorge ungeduldig fragte, warum sie angehalten hatte, sagte Feenie wiederum ziemlich laut: »Haben Sie schon vergessen, daß Sie Miss Novello angeschossen haben? Sie ist kaum in der Lage zu gehen, geschweige denn, Turnübungen zu machen.«
    Jorge schien ihr widersprechen zu wollen, aber Popeye trat vor und sagte: »Wo du recht hast, hast du recht, Schätzchen. Das haben wir gleich.«
    Er zog ein Messer heraus, ließ eine gefährlich aussehende Klinge aufspringen und begann das rote Plastikband zu durchtrennen.
    Die beiden Ajax betrachteten unruhig den bedrohlichen Himmel, als überlegten sie, ob sie auf ihn schießen sollten, während Luis und Jorge unverständlich schnell miteinander sprachen. Ihren Gesten zufolge schien es keine freundschaftliche Unterhaltung zu sein.
    Wahrscheinlich streiten sie darüber, was sie später mit uns machen sollen, dachte Ellie. Da alle gerade irgendwie abgelenkt waren, schien ihr der Moment günstig für einen Fluchtversuch. Nur daß natürlich niemand wegrannte, jedenfalls nicht, solange Popeyes Drohung über ihnen schwebte … aber warum nicht? Warum sollte das
natürlich
sein? Warum sollte man dem unausgesprochen gegebenen Versprechen vertrauen, daß ihnen nichts geschehen würde, wenn sie alle zusammenblieben und taten, was von ihnen verlangt wurde? Sie dachte an die langen Kolonnen der Verdammten und Entrechteten, die sich in diesem wie in vergangenen Jahrhunderten widerstandslos in den Tod hatten führen lassen, obwohl sie ihren Bewachern zu Tausenden an Zahl überlegen waren. Zumindest einige wären sicher entkommen, wenn sie sich erhoben und gekämpft hätten und weggelaufen wären, einige von denen, die man in den sicheren Tod trieb, hätten überleben müssen. In den Tod getrieben … so oder so ähnlich drückte es Homer wiederholt in der
Ilias
aus. Kein Euphemismus in Sicht, wenn es daranging, getötet zu werden, kein Trost

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