Das Haus an der Montego Bay: Roman (German Edition)
sich daraufhin wortlos und mit wütender Miene auf dem Absatz umdrehte, ahnte Misses Sullivan, dass sie ihre Hausangestellte schwer beleidigt hatte. Und nichts lag ihr ferner als das.
»Asha, bitte warte! Der Tag heute ist ein besonders schwieriger. Glaube mir!«
Die Hausangestellte blieb stehen und wandte sich Misses Sullivan erneut zu. Ihre Gesichtszüge hatten sich entspannt.
»Heute ist der Tag, vor dem ich mich die letzten achtzehn Jahre am meisten gefürchtet habe«, murmelte Misses Sullivan. »Miss Valerie ist erwachsen geworden!«
Asha stieß einen tiefen Seufzer aus. »Wie bei Miss Henny. An dem Abend ist das Essen auch ausgefallen und … ojemine, ich möchte gar nicht daran denken. «
Valeries Großmutter rang sich zu einem Lächeln durch. »Das weißt du noch?«
Asha nickte eifrig.
»Wir können nur hoffen, dass es dieses Mal ein glückliches Ende nimmt«, seufzte die alte Dame.
»Wird schon, Missus, ich mache den Grog fertig. Ich verspreche, er wird extrastark.« Mit diesen Worten entfernte sich die Haushälterin.
Hanne stieß einen tiefen Seufzer aus und ließ ihren Blick über die Bucht schweifen. Für sie gab es keinen schöneren Ort auf Erden als diesen. Wenngleich das Haus auf Saint Croix auch einzigartig gewesen war. Und doch schweifte sie in Gedanken an einen ganzen anderen Ort ab, wo es oft kalt und nass gewesen war. Das Haus hatte ebenfalls auf einem Hügel gestanden, umgeben von einem riesigen Park, doch wo hier Zedern, Palmen und Mahagonibäume wuchsen, hatte es dort Eichen, Birken und Buchen gegeben … Und man hatte nicht auf smaragdfarbene ruhige Wasser des karibischen Meeres geblickt, sondern auf die graublauen Wellen der Ostsee … Die Sehnsucht, dieses Haus noch einmal in ihrem Leben wiederzusehen, hatte sie lange Zeit nicht mehr verspürt. In diesem Moment aber wallte sie stärker denn je auf. Hanne wusste allerdings, dass es ihr nicht vergönnt sein würde, jemals wieder einen Fuß auf Heimaterde zu setzen. Diese Chance hatte sie ungenutzt verstreichen lassen.
Plötzlich dachte sie an Valerie und stellte sich vor, wie sie das Tagebuch mit spitzen Fingern in eine Schublade steckte, fest entschlossen, es niemals anzurühren, dann im Zimmer auf und ab lief, am offenen Fenster stehen blieb, um den betörenden Duft der Hibiskusblüten einzuatmen. Und wie sie sich der Schublade dann zögernd nähern, das Buch hervorkramen und schließlich den Deckel aufklappen würde. Hanne stellte sich vor, wie sie eine Weile auf der Titelseite verweilte. Sie würde erst Schwierigkeiten haben, die verschnörkelte Jungmädchenschrift zu entziffern, aber nachdem sie die Buchstaben erfasst hatte, würde sie die folgende Widmung lesen: Tagebuch der Reederstochter Hanne Asmussen, Geschenk ihrer Mutter Jette zum achtzehnten Geburtstag. Anno 1830
2
Flensburg, Juli 1830
S ie glauben, ich merke es nicht, dass sie Sorgen haben, aber sie können es schwerlich verstecken. Mutter wird immer blasser und dünner. Und sie hustet ständig. Wenn ich sie frage, ob sie krank ist, beeilt sie sich immer, mir zu versichern, dass alles in Ordnung sei. Dabei bleibt sie auffällig häufig ganze Tage im Bett liegen. Da stimmt etwas nicht, warum sprechen sie nicht darüber? Bei Vater liegt der Fall wesentlich einfacher. Er wird immer ungerechter und aufbrausender, und ich ahne, warum. Bei Tisch wird ja von nichts anderem geredet. Die Erwachsenen denken wohl, ich verstehe nicht, wovon sie sprechen, aber da haben sie sich getäuscht.
Es ist eine Tragödie. Vater steht kurz vor dem Ruin. Er hat über die Hälfte seiner Schiffe durch den verdammten Krieg verloren. Mutter schimpft ständig auf die Engländer, die Gewinner, während Vater kein gutes Haar am dänischen König lässt, der sich ja unbedingt mit den Franzmännern verbünden musste, wie er es ausdrückt. Dann gibt es bei Tisch jedes Mal einen handfesten Krach. Mutter nennt Vater einen »deutschen Dickschädel«, Vater Mutter ein »dänisches blindes Huhn«. Ich merke im Alltag allerdings kaum, dass Vaters Vermögen schwindet. Ich bekomme immer noch alles, was mein Herz begehrt, und wir wohnen auch noch immer oben auf dem Hügel, umgeben von einem riesigen Park, der zu unserem Haus gehört. Es ist der größte Landschaftsgarten der ganzen Stadt und Vaters ganzer Stolz. Wer hat schon geheimnisvolle Grotten in seinem Park und einen Wasserfall?
Mein liebster Ort ist die Spiegelgrotte, ein unterirdischer Achteckbau, der durch die dreizehn Spiegel unendlich groß
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