Das Haus der blauen Schmetterlinge - Roman
spielte, dennoch hatte das Geschehen vor nicht einmal einer Dekade stattgefunden. Abstrakt hatte Elsa zwar von diesen grausamen Ritualen gewusst, ebenso wie Paulette wusste, dass sich einst guillotinierte Leichname auf Pariser Marktplätzen gestapelt hatten, oder wie ein Katholik wusste, dass seine Glaubensbrüder einst freudig der Verbrennung von vermeintlichen Ketzern beigewohnt hatten. Dies hier jedoch war gegenwärtig, hautnah, eine Berührung.
Wäre jemand angekommen und hätte behauptet, in Port Rabaul würden Säuglinge als Blutopfer auf den Stufen des Heiligtums dargebracht, wäre Elsa nicht schockierter gewesen wie über Iolanas unglaubliches Erlebnis. Es war der Einbruch des Barbarischen in die Zivilisation, und dieser Einbruch â das war das eigentlich Erschreckende â kam von innen. Die Barbarei, von der Iolana ihnen berichtete, war genauso Teil der Südsee wie die atemberaubende Schönheit der Atolle, die freizügige Anmut der Frauen, das einfache, paradiesische Leben fernab vom Geld und all die anderen Dinge, die die Europäer an der pazifischen Inselwelt anzogen.
Obwohl Elsa nicht von den Marquesas-Inseln stammte, verspürte sie plötzlich eine unsagbare Fremdheit gegenüber ihrer samoanischen Herkunft und Heimat, die sich nur graduell von Iolanas unterschied. Den Nachrichten aus Europa war zu entnehmen, dass die Barbarei auch dort wieder Einzug hielt â die Deutschen bombardierten Warschau.
Elsa fühlte sich verloren. Sie, die immer nach einer Identität für sich gesucht hatte, stellte fest, dass diese nicht im Nationalen, nicht im Kulturellen zu finden war.
Iolanas Geschichte ging noch weiter, und wie sich herausstellen sollte, war ihr schauriger Höhepunkt noch nicht erreicht, auch wenn das kaum zu glauben war.
Nachdem sie sich wieder ein wenig gefasst hatte, sagte die Polynesierin: » Sie haben mich noch am selben Tag mit Akamu verheiratet. Ich habe so gut wie keine Erinnerung daran, es kommt mir eher vor wie ein Alptraum, den ich vor langer Zeit einmal hatte. Die Zeremonie war althergebracht, ich sehe noch die männlichen Tänzer um mich herumschwirren, wild bemalt, mit Tierhäuten und Federn geschmückt, und einen Greis mit kalten, grausamen Augen. Das ist alles. Das nächste Bild bin ich in Akamus Hütte. Er ist nicht böse zu mir. Er sagt liebe Worte, streichelt meinen Arm. Er gibt mir zu trinken, und ich trinke. Dann gibt er mir zu essen, und ich esse, mechanisch wie ein Apparat. Er ist zufrieden mit mir. Er lächelt mich an und sagt: âºSo ist es Sitte. Die Frau isst den Krieger, der im Kampf um sie unterlegen war.â¹ Im ersten Moment verstehe ich nicht, was er meint. Ich sehe Akamu an. Einen Atemzug später kommt die Erkenntnis. Ich würge. Ich versuche alles, um das Fleisch aus mir herauszubekommen, ich stecke mir den Finger in den Rachen, schlage mir auf den Bauch, ich bin völlig auÃer mir, aber ⦠ich schaffe es nicht, ich bekomme Kimo nicht mehr aus meinem Magen. Er bleibt dort drin, und ich bin bereit zu sterben, nur um den geliebten Toten nicht ⦠und dann anderntags ⦠Nein, nein, nur das nicht. Aber Akamu hält mich fest. Mit seinen starken Armen, die Kimo getötet haben, umklammert er mich, bis ich wieder in den teilnahmslosen Zustand verfalle, der mich schützt und zugleich verdammt. «
Iolana erhob sich müde und ging einige Schritte auf und ab, wobei sie die Hände rang. In ihrem knappen azurblauen Kleid sah sie vor dem Hintergrund des Pazifiks aus, als wäre sie aus ihm hervorgegangen und als wolle sie eines nicht allzu fernen Tages wieder in ihm verschwinden.
» Daraufhin hat Akamu mich ins Bett gebracht und sich auf mich gelegt. Mein Körper hat den seinen kaum gespürt, aber ich wusste die ganze Zeit über, dass er da war, was er tat und was in meinem Körper passierte. In dieser Nacht wurde Mele gezeugt. «
» Woher weiÃt du das so genau? « , fragte Elsa, als wolle sie das Mädchen gegen eine ungeheuerliche Anschuldigung in Schutz nehmen. Ihre Frage kam ihr zwar selbst sofort deplatziert vor, aber sie stand im Raum, und Iolana antwortete knapp darauf.
» Weil Akamu mich danach wochenlang nicht angerührt hat. « Iolana schüttelte heftig den Kopf, als wollte sie dieses Detail abschütteln und zum Wesentlichen zurückkehren. » Das Kind, das in jener Nacht in mir entstanden ist, stammte vom Mörder meines Geliebten,
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