Das Haus der blauen Schmetterlinge - Roman
überhaupt bereit, über ihren » Fall « zu sprechen, jedwede andere Andeutung führte dazu, dass sie die Unterhaltung höflich, aber entschieden abbrach. Auch ihr übriges Verhalten deutete unmissverständlich darauf hin, dass sie den Aufenthalt in der Kolonie nur als kurze Episode verstand.
Sie tat alles, um das schmutzige Kleid wieder sauber zu bekommen, da sie es zu tragen gezwungen war. Paul Vandervalt hatte nämlich ihre übrige Garderobe inzwischen einigen einheimischen Hausdienerinnen geschenkt, mit denen er sich von Zeit zu Zeit amüsierte. Zwar bemühte Elsa sich vergeblich und musste am Ende doch auf die von der Kolonie zur Verfügung gestellte weiÃe Hemdbluse und den bodenlangen Rock zurückgreifen, aber das verstärkte nur ihren Trotz und das Bestreben, sich von den anderen abzugrenzen.
Die Telegrafenstation, nicht die Kapelle, war ihre eigentliche Trostspenderin, und auch nach einer Woche fiel es ihr nicht im Traum ein, sich an der Hauptbeschäftigung der Frauen zu beteiligen. Natürlich fegte sie die Hütte und kochte für die Kinder, doch sie weigerte sich, in die Dörfer der Insel zu gehen, um den » sittlichen Anstand « der Einheimischen zu fördern und zu überwachen, der unter anderem im Tragen langer Hosen und Röcke und im Verbot gewisser Tänze bestand. Aus reiner Dankbarkeit für die Aufnahme und nicht etwa aus Ãberzeugung wohnte sie den Andachten bei. Sie fühlte sich dort so deplatziert wie die Singvögel im Käfig, die ihr Henning geschenkt hatte. Einundzwanzig Vögeln hatte sie im Laufe der letzten Monate die Gefängnistür geöffnet, und sie waren alle mit einem hellen Schrei in den Wald davongeflogen. Jedes Mal, wenn Elsa die Telegrafenstation betrat, dachte sie daran zurück.
An jenem elften Tag, als man ihr das Fernschreiben aushändigte, stieg dieser helle Schrei der Vögel auch aus Elsas Brust auf, wenn auch nur für sie hörbar. Sie riss den Umschlag so hektisch auf, dass er in Fetzen zu Boden fiel. Wenige Sekunden später brach sie zusammen.
In Elsas Traum zogen Bilder in schnellem Wechsel auf â Karawanen glühender Passatwolken, Wälder aus Riesenfarnkraut, ein Telegramm, in ein Vlies aus Dunst eingehüllte Berge, eine zarte Frauenhand, die eine Mango schälte, ein Ringelreigen von betrunkenen Männern, Körper von jugendlicher Schlankheit, die kopfüber in eine Lagune sprangen, Myrtle Maloy, eine in allen Farben schimmernde Muschel mitten im Spiel von Licht und Wasser, Paul Vandervalt, ein Hochzeitskleid, ein rauchumwölkter Spieltisch, blaue Augen, die ihr ganz nahe kamen, eine rasante Autofahrt, ein sich entfernender Dampfer, ein Dach aus Palmwedeln â¦
Das war das Erste, was Elsa sah, als sie zu sich kam. Es war lange her, dass sie zum letzten Mal unter einem ursprünglichen, im pazifischen Stil errichteten Dach geschlafen hatte. Damals war sie ein kleines Mädchen gewesen, und ihre Eltern hatten noch gelebt. Ihr Vater hatte das Haus in Elsas Geburtsjahr 1909 für seine Familie erbauen lassen. Es war ein typisch samoanisches fale, rundherum offen, mit Strohmatten, die man in der Nacht herunterlieÃ. Aber Uwe Jensen war kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges mit seinem Handelsschiff untergegangen, und auf den Tag, an dem Elsas Mutter Letii die Nachricht von seinem Tod erhielt, folgte Elsas letzte Nacht im fale. Danach zog sie in die königliche, von den deutschen Kolonialherren erbaute Residenz. Drei Jahre später starb Letii an einer von den neuen Machthabern, den Neuseeländern, eingeschleppten Seuche. Elsa war damals acht Jahre alt.
Sie hatte nur wenige, dafür sehr intensive Erinnerungen an diese Hüttenjahre, die ihr stets ein Lächeln auf die Lippen zauberten.
Dann fiel ihr alles wieder ein: das Telegramm, der Zusammenbruch und die Traumbilder.
Sie lag auf einer Strohmatte, die mit Palmblättern unterfüttert war, darunter kam gleich der Holzboden. Der Raum war groÃ, kaum möbliert und sauber gefegt, aber unordentlich. Ãberall stapelten sich Kisten und Pakete. Die Wände bestanden aus Strohmatten, wie Elsa sie aus dem fale ihrer Kindheit kannte, die den Wind und das Licht filterten. Das Meer musste sehr nahe sein, es rauschte leise in jenem Rhythmus von hell und dunkel, von grollendem Wellenaufbau und sanftem Wellenauslauf, der für Elsa von Geburt an wie ein zweiter Herzschlag war.
Ihr Blick fiel auf das
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