Das Haus der blauen Schmetterlinge - Roman
zusammengefaltete Telegramm, das auf einem Korbstuhl lag und von kleinen, kaum spürbaren Luftwirbeln bewegt wurde. Elsa schien es, als winkte es ihr zu.
Langsam richtete sie sich auf, nahm das Papier in die Hand und entfaltete es.
» Lage wird bedauert â stopp â weisen noch heute zehn Pfund an â stopp â wünschen das Beste â stopp â Akoni, im Namen der Familie Maetese. «
Der kurze Text war in samoanischer Sprache verfasst und voller Hinweise, von denen jeder Einzelne eine Zurechtweisung, wenn nicht gar eine Ohrfeige darstellte. Zehn Pfund, das war weniger, als eine Schiffspassage von Rabaul nach Samoa kostete. » Wünschen das Beste « hieÃ, sie erwarteten nicht, bald wieder von Elsa zu hören, und Akoni war der jüngste ihrer fünf Onkel, was bedeutete, dass man der Sache keine Wichtigkeit beimaÃ. Akoni hatte ihr » im Namen der Familie « geschrieben. Sie hatten also im Familienrat darüber gesprochen und ihr zehn Pfund bewilligt, was eindeutig als Aufforderung an sie zu verstehen war, nicht zurückzukehren. Den Grund für diese Entscheidung hatten sie ebenfalls mitgeliefert: Der eigens genannte Familienname war eine Anspielung darauf, dass sie aufgrund ihrer Heirat und der Auswanderung nicht mehr zur Familie gehörte. Für die samoanische Sippe war sie eine Matthes.
Für die Europäer dagegen eine Samoanerin. Schon beim letzten Gespräch mit Myrtle Maloy war Elsa aufgefallen, dass die Missionarswitwe sie nicht mehr mit » Mrs. Matthes « , sondern mit » liebes Kind « angeredet hatte, von Henning dagegen hatte sie stets als » Mister Matthes « und nicht als » Ihr Mann « oder » Ihr Gatte « gesprochen. Die spärliche Teilhabe am gesellschaftlichen Leben der Europäer, die man ihr aufgrund ihrer Ehe zugebilligt hatte, war mit Hennings unverhoffter Abreise offenbar verfallen. In den Augen der Damen von Port Rabaul war die Ehe beendet â und das Verhältnis zu Elsa damit auf eine andere Grundlage gestellt. Nicht einmal der Prinzessinnenstatus war ihr geblieben. Das Schlimmste jedoch war: Immer war jemand für sie da gewesen, zuerst ihre Eltern, dann die übrige Familie und schlieÃlich Henning. Nun war keiner mehr da. Zum ersten Mal in ihrem Leben war Elsa allein. Sie war dreiundzwanzig Jahre alt und in einem Land, das nicht ihre Heimat war, ganz auf sich gestellt, ohne Freunde, mit keinem anderen Besitz als einem schmutzigen Kleid und zehn Pfund. Als ihr das bewusst wurde, schlich sich ein weiteres Gefühl in ihr Selbstmitleid: Wut.
» Mir wäre es lieber, Sie würden noch ein Weilchen liegen bleiben. «
Elsa folgte dem Rat. Sie war derart damit beschäftigt, ihre Lebenssituation zu begreifen, dass sie sich über gar nichts mehr wunderte, auch nicht über die Anwesenheit von Max Richter. Wie üblich lief der Arzt mit aufgeknöpftem Hemd und in dem nicht ganz sauberen Leinenanzug herum.
» Ich dachte, ich wäre wieder in Mrs. Maloys Kolonie « , sagte Elsa mit einer Zerbrechlichkeit in der Stimme, die ihr missfiel. Sie nahm sich vor, etwas mehr Festigkeit hineinzulegen. » Man hat mich also zu Ihnen gebracht, Doktor. Das ist doch Ihr Haus, oder? «
» Halb Zuhause, halb Praxis. Hier behandele ich die Patienten, die zu mir kommen. Ich schlafe und wohne nebenan. Das Bett, in dem Sie liegen, ist für Notfälle reserviert. «
» Wie lange war ich ⦠Ich meine ⦠«
» Ein paar Jungen haben Sie vor ungefähr drei Stunden hergebracht. Ich habe Ihnen nichts gegeben. Schlaf ist die beste Medizin für die Nerven. «
Bei dem letzten Wort zuckte sie leicht zusammen. Natürlich, er hatte das Telegramm gelesen. Er wusste alles. Bald würden alle alles wissen.
Elsas erster Instinkt war, den Schein, also das Gesicht zu wahren, wie in den Aschenputteljahren ihrer Jugend, als sie ihr Leiden verborgen hatte. Diese Haltung hatte genauso viel mit einem stolzen samoanischen Herzen zu tun wie mit einem ererbten hanseatischen Rückgrat â und letztlich auch mit der Unfähigkeit, sich anderen Menschen gegenüber verwundet zu zeigen, sich jemandem anzuvertrauen. Sie hatte gelernt, sich keine BlöÃe zu geben, da ihre Kusinen jede Schwäche für weitere Sticheleien ausgenutzt hatten. Henning hatte sie aus diesem Gefängnis namens Familie befreit, ganz wie die Retter in den romantischen Romanen. Ihm gegenüber hatte sie sich
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